Dialogische Begegnungen. Minderheiten – Mehrheiten aus hybridologischer Sicht

von: Elka Tschernokoshewa (Hrsg.), Ines Keller (Hrsg.)

Waxmann Verlag GmbH, 2011

ISBN: 9783830974215 , 346 Seiten

Format: PDF

Kopierschutz: frei

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Preis: 31,40 EUR

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Dialogische Begegnungen. Minderheiten – Mehrheiten aus hybridologischer Sicht


 

Oberschlesische Identitäten: Zwischen homogenen Sprach- und interferenten Sprechformen (S. 251-252)
Piotr Kocyba

In Schlesien begann der bis heute nachwirkende Sprach- und Kulturkontakt mit der Siedlungsbewegung deutschsprachiger Kolonisten im 12. Jahrhundert, in deren Folge Träger unterschiedlicher regionaler Varianten des Deutschen in das südwestliche Gebiet des westslawischen Dialektkontinuums zogen.

Wenn auch entgegen der nationalistischen Darstellung Sprach- und Kulturgrenzen nicht kongruent sein müssen, können anhand unterschiedlicher Strategien im Umgang mit der Mehrsprachigkeit Rückschlüsse auf die Positionierung unter den in diesem Fall sprachlich unterschiedenen Gruppen gezogen werden. Einerseits hätte Schlesien infolge der spätmittelalterlichen Migration in dem Sinne zweisprachig werden können, als dass es von zwei Sprachgruppen bewohnt wurde, die jeweils in der Mehrheit monolingual blieben – für die Bewältigung von Kommunikationsakten hätte sich, falls keine gemeinsame Lingua franca vorgelegen hätte, durchaus ein Pidgin entwickeln können.

Wäre die soziale Ausgangslage asymmetrisch genug gewesen, wäre der Prozess der Kreolisierung nicht auszuschließen, der in der Genese einer neuen Kontaktvarietät, dem Kreol, gemündet hätte. Andererseits hätten beide Seiten jeweils die andere Sprache erlernen können – es bleibt die Frage, ob es sich um aktive oder passive Zweitsprachkenntnisse gehandelt hätte. Neben diesen beiden Möglichkeiten ist zumindest in Europa weitaus häufi ger zu beobachten, dass sich der asymmetrische Bilingualismus entwickelt, also nur eine (meist die dominierte) Gruppe zweisprachig wird.

Aufgrund dieser Fülle der Möglichkeiten, die sich gegenseitig nicht ausschließen, sollte man sich insbesondere bei der Analyse des Verhältnisses zwischen den beiden in Kontakt getretenen Sprachgruppen nicht mit der Bezeichnung zweisprachiges Schlesien begnügen, weil damit alle oben beschriebenen Alternativen gemeint sein könnten. Wenn einer geografi schen Einheit das Attribut der Bilingualität zugesprochen wird, sagt das nichts über die Relation zwischen den Sprachträgern aus, die seit Uriel Weinreichs Languages in Contact: Findings and Problems (1953) den eigentlichen Ort des Sprachkontakts darstellen.

Diese psycholinguistische Begriffsbestimmung kann um eine soziolinguistische Definition ergänzt werden, welche in der Zusammensetzung der Sprechergemeinschaften sowie der Positionierung der einzelnen Sprachgruppen einfl ussreiche Faktoren für die Sprachkontakterscheinungen sieht, da es „keinen Kontakt zwischen zwei Sprachen, sondern nur zwischen Sprechern der Sprachgemeinschaften“ gibt. (Darquennes 2004: 11) Die Untersuchung des Sprachkontakts ist daher von Beginn der modernen Kontaktlinguistik an immer auch – neben der Textkorpusanalyse – eine Analyse der Beziehung zwischen den involvierten Sprachgruppen sowie der Mehrsprachigkeit der einzelnen Gruppenmitglieder.