Die Tote vom Hörster Friedhof - Sieglinde Zürichers neunter Fall

von: Ursula Meyer

Waxmann Verlag GmbH, 2009

ISBN: 9783830971009 , 320 Seiten

Format: PDF, ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 12,70 EUR

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Die Tote vom Hörster Friedhof - Sieglinde Zürichers neunter Fall


 

- I -
Nach einer weiteren Stunde war das Tatortteam versammelt.
Rund um die lang gestreckte Fläche des alten, schon seit langem aufgelassenen Friedhofs zwischen Piusallee, Bohlweg und Karlstraße zog sich das rotweiße Absperrband. Die fahle, in kränkliches Weiß gekleidete Morgensonne hatte längst vor dem zähen Bodennebel kapituliert, so dass unsere Kollegen mit ihren weißen Schutzanzügen in dieser fast gespenstischen Szenerie wie die Besatzung eines intergalaktischen Fahrzeugs wirkten. Energisch rieb ich mir die Müdigkeit aus den Augen, und die schemenhaften Raumfahrer sahen wieder aus wie normale Kriminaltechniker. Auch bei der leblosen Gestalt auf der taufeuchten, von abgefallenen Blättern gesprenkelten Rasenfläche handelte es sich nicht um eine lebensgroße Puppe, sondern um eine ermordete Frau. Die Frage, ob die Würgemale am Hals die Todesursache waren oder ihre inneren Verletzungen, würde erst eine Obduktion beantworten können. Bei den Angaben zur Todeszeit hielt sich Dr. Kerner vom Institut für Rechtsmedizin ebenfalls vorsichtig zurück: am späten Abend oder in dieser Nacht; so viel stand fest.
Bis weit nach Mitternacht hatten Franz und ich einen größeren Freundeskreis bewirtet, wir hatten uns viel Zeit miteinander genommen, in der optimistischen Annahme, bis zehn Uhr ausschlafen zu können, weil Samstag war. Jetzt tanzten weiße Punkte vor meinen Augen und die Kehle kratzte wie Pergamentpapier. Kollege Max Lückmann, der unter unseren Gästen gewesen war und jetzt schweigsam neben mir stand, hatte ganz kleine, schlaftrunkene Augen, und nach seinem Strubbelkopf zu urteilen, war er ebenfalls aus dem Bett gleich in Kleidung und Schuhe gefahren. In Unkenntnis der rauen Witterung hatte er nach einer leichten Wildlederjacke und einem dünnen Schal gegriffen, und ein extrascharfer Kaugummi musste die Zahnbürste ersetzen. Als er um ein Papiertaschentuch bat, reichte ich ihm ein Blatt Küchenrolle aus dem Reservoir meiner Umhängetasche - wenig kniggetauglich, an nass-nebeligen Verbrechensschauplätzen allerdings unschlagbar.
Kerner setzte die Leichenschau fort, und ich fühlte eine vage Dankbarkeit über diesen Aufschub. Hartnäckig mied mein Blick die tote Frau, er wanderte über den Rhododendron, ohne jedoch Halt an seinen wie winzige Pinienzapfen geformten Knospen zu finden. Eine große Schwarzdrossel schoss aus dem Unterholz hervor, rannte zielstrebig über die Rasenfläche und zerrte einen Regenwurm aus dem Boden. Der Wurm wand und krümmte sich, bevor er stückweise im Vogelschnabel verschwand. Gleich würde der Räuber zufrieden auf einen Ast flattern und triumphierend zu singen beginnen, bis die Anstrengung seinen kleinen Körper durchlief wie eine lustvolle Welle. Ich spürte wieder jene Mischung aus Hilflosigkeit und Ekel, die gewaltsam gestorbene Lebewesen in mir auslösten; ein fast archaisches Entsetzen vor jedem brutalen Tötungsakt. Als Vierjährige war ich Zeuge des grausamen Spiels unserer Nachbarkatze mit einer Drossel geworden. Am liebsten wäre ich weggelaufen, doch ich lag mit verstauchtem Fuß im Bett, und der ungleiche, hässliche Kampf lief unmittelbar vor meinen Augen an der Terrassentür ab. Dieses heimtückische Loslassen und Fangen, die Jagdlust und Gier der schwarzen Katze und die erbärmlichen Fluchtversuche des Vogels lösten eine Panik aus, die mir in der Kehle hochschoss wie eine scharfe Säure. Vergeblich stopfte ich mir die Finger in die Ohren, immer unflätiger polterte die fette Katze in ihrem Tötungstaumel gegen die hölzerne Balustrade, und der Vogel schrie. Als endlich Stille eingekehrt war, wirbelte der Wind einen Trauerzug schwarzer Federn über die Terrasse, während die Bestie mit dem Kadaver spielte wie mit einem Strickknäuel.
Von da an verließ ich das elterliche Wohnzimmer, sobald sich im Fernsehen Schlägerstimmung aufschaukelte, sicherte mich bei Kinobesuchen mit Freunden über das voraussehbare Gewaltpotential ab, bis meine erste große Liebe mich in den „Weißen Hai“ lockte, unter dem Vorwand, es handele sich um einen Dokumentarfilm. Schon manches Mal hatte ich darüber gegrübelt, inwieweit mein Vorsatz, Polizistin zu werden, mit dieser tief verankerten Abscheu zu tun hatte. Ich ließ meine Augen über die verwitterten, bemoosten, von Efeupelzen überwucherten Grabsteine wandern und fand auch jetzt keine Antwort.
Kerner löste sich aus der unbequemen Hockhaltung, zu der ihn die Leichenschau gezwungen hatte, und zog das Diktiergerät aus der Brusttasche seines weißen Overalls, unter dem er einen beneidenswert warm und sehr schottisch aussehenden Tweedsakko trug. Ich fror in meiner dünnen Brokatjacke, dem einzigen Stück Oberbekleidung, das mir in der Eile meines Aufbruchs in die Hände geraten war. Ich hatte am vergangenen Abend unsere Garderobenhaken für die Gäste geräumt und meine dicke Walk-Jacke ins Praxiswartezimmer meines Mannes gehängt. Beim Abschied der Gäste hatte ich noch schnell den neuen, sündhaft teuren Blazer vorzeigen müssen, so dass das gute Stück, nachdem es prüfenden Händen und nicht ganz neidlosen Blicken ausgesetzt gewesen war, die Nacht über der Sofalehne verbrachte.
Während Kerner seine Beobachtungen auf Band sprach, versuchte ich, aus seinen stakkatoartigen Formulierungen erste Ergebnisse zu entschlüsseln. Doch ich kam nicht weit, und so beschloss ich abzuwarten, bis er mit seiner Untersuchung fertig und bereit zu Erläuterungen war, die auch medizinische Laien wie ich verstanden. Ich bewunderte sein Engagement und seine Kompetenz. Viele bewunderten ihn, und es war kein Geheimnis, dass er auf den Direktorenposten des Instituts für Rechtsmedizin spekulierte. Bisher war er nur interimistischer Leiter. Vor drei Wochen hatten wir den Abschied seines Vorgängers Professor Busse in dem alten Backsteingebäude an der Von-Esmarch-Straße, mit dem anorektischen Adler über dem Eckportal und der umso wohl genährteren Eule am Seiteneingang, gefeiert. Busse würde in Münster wohnen bleiben und seinen reichen Erfahrungsschatz weiterhin zur Verfügung stellen.
Ganz im Gegensatz zu meinem eigenen Chef. Nach seiner Pensionierung Ende August hatte Dr. Gross, seit jeher für Überraschungen gut, seine kleine, alte Villa an der Gasselstiege einer Maklerin anvertraut und mit einer holländischen Jugendfreundin - er hatte über dreißig Jahre lang als Witwer allein gelebt - ein Hausboot gekauft, um die niederländischen Kanäle abzuschippern. Und falls es ihm und seiner Vera dort zu öde wurde, warteten die Pariser Quais oder die verträumten Seineschleifen, westlich der französischen Metropole, wo so manches Bild der Impressionisten entstanden war.
Dabei konnte „der Pinguin“, wie Gross in sentimentaler Rückschau noch immer von seinen Mitarbeitern genannt wurde, angeblich gar nicht schwimmen.
Ich fragte Lückmann, ob unser neuer Chef über den Leichenfund am Hörster Friedhof informiert sei. Er nickte. Dr. Sonnhagen erwartete uns so schnell wie möglich in seinem Büro, zur ersten Berichterstattung. Kein schöner Start!, dachte ich mitleidig, erst gestern Nachmittag der Einstand in unserem Meetingraum mit launigen Worten, Kir Royal und Schokoladentorte, nur fünfzehn Stunden später betroffene Gesichter, Fotos von wässrigen Blutlachen und der Leiche einer jungen Frau, die längst die Totenstarre erreicht hatte.
Erst jetzt fiel mir auf, dass sie genau in der Mitte zwischen den beiden Steintafeln lag. Es gab nicht viele Grabmäler auf diesem alten Friedhof. Flechten, Moose und eine grünliche Patina hatten sie im Lauf der Zeit mit einer Tarnfarbe überzogen, so dass es aussah, als hätten sich die Platten und Säulen langsam und beharrlich aus dem Untergrund herausgeschoben. Aber die weite Fläche hatte auch etwas von einer düsteren Bauklotzwiese für einen nekrophil veranlagten Riesen.
Als Dr. Kerner die Frau auf den Bauch drehte, kam am Hinterkopf eine Platzwunde zum Vorschein. Der Arzt nickte auf meine Frage, ob sie von ihrem Sturz auf den harten Untergrund herrühre. Mit Sicherheit sei sie nicht tödlich gewesen. Das Blut hatte die Haare verklebt, doch der relativ kleine, dunkle Fleck im Rasen verriet, dass die Blutung schnell zum Stillstand gekommen war. Demnach war die Wunde nicht sehr tief.
War die Frau vielleicht nicht erst hier, genau zwischen den beiden Grabplatten, unter ihren Verletzungen zusammengebrochen? Hatte der Täter sie hierher geschleift, um ein Zeichen zu setzen? Ich sah mir die Inschriften auf den Steinen an. Die Namen sagten mir nichts, beide Todesdaten fielen ins zweite Drittel des neunzehnten Jahrhunderts, kurz bevor man den Friedhof aufgegeben hatte. Jugendliche trafen sich manchmal hier zum Kiffen, auch waren schon Penner beobachtet worden, wenn sie im Morgengrauen ihre mit alten Zeitungen ausgestopften Rewe- oder Lidltüten unter dem Kopf hervorholten. Die schrägen Steinplatten funktionierten wie Keilkissen, und die geweihte Erde hatten Schnee und Regen längst ausgewaschen.
Kerner - er war etwa eins neunzig und von massiger Statur - stemmte sich ein weiteres Mal aus der Hocke hoch, und als er dann beiseite trat, um über sein Handy einen Sarg anzufordern, betrachtete ich dies als Aufforderung, mir meinerseits die Tote gründlich anzusehen. Und da war...