Zur Ästhetik des Verlusts. Bilder von Heimat, Flucht und Vertreibung

von: Elisabeth Fendl (Hrsg.)

Waxmann Verlag GmbH, 2010

ISBN: 9783830974864 , 282 Seiten

Format: PDF

Kopierschutz: frei

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Preis: 26,90 EUR

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Zur Ästhetik des Verlusts. Bilder von Heimat, Flucht und Vertreibung


 

„Liberec ist noch immer auf der Suche nach seinem Gesicht und seiner Seele.“ Ein kritischer Blick auf mehrsprachige Foto- und Heimatbücher der Stadt Liberec 2001–2007 (S. 239-240)

Karl Braun


In memoriam Hans Lemberg 1933–2009

Liberec ist ohne den Jeschken nicht zu denken; den Jeschken aber, und was er für sie bedeutet, erschaffen sich die Menschen, die mit ihm aufwachsen, die in seinem Umkreis ihren Alltag bewältigen, die in seiner Präsenz oder in der Erinnerung an ihn leben, in ihrem Denken immer von Neuem. Er war der Reichenberger Hausberg und er ist der von Liberec, die Signatur der Gegend.1 Der Jeschken, so heißt es in dem dreisprachigen Fotoband „Durch die Liberecer Region“, der 2003 von der Bezirksverwaltung Liberec herausgegeben wurde, trennte zwei Welten: „die rege Industrieregion im Norden des Quellgebiets der Neiße [...] mit überwiegend deutscher Bevölkerung“ und den „ruhigen landwirtschaftlichen Süden, wo die tschechische Bevölkerung lebte.

Das vergangene Halbjahrhundert brachte in dieser Hinsicht zwar viele Änderungen, doch die Berge verloren nichts von ihrer Schönheit, den Werten der Natur oder dem Reiz der vom Menschen geprägten Schönheit“.2 Andere Stellen des Buches – die erste allgemein auf die Region bezogen, die zweite speziell Ceský Ráj / das Böhmische Paradies betreffend – entwerfen eine ähnliche, von der Geschichte abgekoppelte Kontinuität der Natur, eine lange, von Menschen unabhängige Dauer von Berg und Fels: „Die Berge und Felsen stehen seit urewigen Zeiten ohne Bewegung, nur ihre Besitzer und Landesverwalter kamen und gingen.“

– „Die Menschen, die hier vor so langer Zeit lebten, dass wir ihre Herkunft nicht kennen, wurden vor zweieinhalb Jahrtausenden von den Kelten abgelöst. Jahrhunderte lang wohnten hier dann die Germanen. Heute ist es still, nur das Rauschen des Waldes, die leise Stimme des Rotkehlchens, eines zarten Vogels.“ Die proklamierte Zeitlosigkeit der Natur wird in allen drei hier angeführten Zitaten unterlaufen von Geschichtlichkeit, von einem Wandel in der Bevölkerung, der jedoch keine klare Benennung findet. „Über allen Gipfeln ist Ruh/ in allen Wipfeln spürest du / kaum einen Hauch...“:

Die von Goethe benannte Spannung zwischen zeitlosem Gebirge und spürbarer, durch die Anrufung eines Du nicht zu negierender Präsenz von Geschichte im un merklichen Windspiel der Wipfel wird in den zitierten Textstellen ebenfalls melancholisch aufgelöst: in der Dauer der – auch von Menschen gestalteten – Schönheit der Berge, im Wechsel des Besitzstandes, der in einem „nur“ eingefroren ist, und vor allem in der „leisen Stimme des zarten Vogels Rotkehlchen“. Eine doppelte, in sich spannungsgeladene Unfähigkeit tut sich auf: das Nicht-Benennen-Können der jüngeren Geschichte und gleichzeitig ihr Nicht-Verschweigen-Können.