Mord in Münster - Kriminalfälle aus fünf Jahrhunderten

von: Jürgen Kehrer

Waxmann Verlag GmbH, 1995

ISBN: 9783830950790 , 142 Seiten

Format: ePUB

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Preis: 9,99 EUR

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Mord in Münster - Kriminalfälle aus fünf Jahrhunderten


 

I

 

Die Ermordung des Komturs
Melchior Droste zu Senden (1588)

 

 

 

Am Abend des 20. März 1588 wurde der Komtur Melchior Droste zu Senden auf dem Kirchhof der Aegidii Kirche ermordet. Der Komtur (= Kommandeur), Chef einer Ballei (= Verwaltungsbezirk) des Johanniterordens zu Bakelesch, befand sich auf dem Weg zu seiner in der Lütken Gasse gelegenen Wohnung. Sofort nach dem Mord lief das Hausgesinde des Komturs zur Wache, der Meldemeister informierte den ältesten Bürgermeister Dr. Bent, welcher wiederum den Stadtrat für den nächsten Morgen, um sechs Uhr, einberief.

 

 

Historische Grenzen der Stadt Münster

 

 

 

Bei der frühmorgendlichen Ratssitzung wurde eine Untersuchungskommission eingesetzt, die den Leichnam inspizieren sollte. Zur Kommission gehörten der Richter Leisting, die Richtherren Huge und Münstermann und der Stadtsekretär Pagenstecher. Als medizinische Fachleute wurden zwei Barbiere hinzugezogen.

Über die Todesursache des Komturs konnten keine Zweifel bestehen. Die Kommission zählte insgesamt fünf Messerstiche, einen in den Kopf (»durch das Hirn«), einen in den Nacken, einen Stich durch den rechten Arm und zwei in den Leib, »unter dem Nabel« und »unter dem rechten Arm«. Auch Zeugen, die über den Tathergang Näheres zu berichten wußten, gab es reichlich. Sie wurden sofort zum Stadtrat vorgeladen, der währenddessen auf die Rückkehr der Kommission wartete.

Nach den Zeugenaussagen, die sich nur unwesentlich unterschieden, ergab sich folgendes Bild:

Am Vortag war der Komtur auf einer Hochzeitsfeier gewesen. Der Bräutigam Asche Arendes, ein domkapitularischer Beamter, hatte dazu in den Hof des Erbmarschalls Morrien an der Aegidiistraße geladen. Viele Adelige und Domherren waren anwesend, und man sprach gehörig dem Wein zu. Irgendwann kam es zum Streit zwischen den beiden Domherren Johan von Torck und Berndt von Oer.

(Die vom Bischof ernannten Domherren zählten zwar zu den »Geistlichen«, waren aber nicht zwangsläufig Priester. Es reichte, wenn sie die niederen Weihen empfangen hatten. Erheblich strenger war dagegen die soziale Auslese: Bewerber für eine Domherrenstelle mußten sechzehn adelige Ahnen und ein zweijähriges Studium an einer Universität in Frankreich oder Italien nachweisen.)

Die verbale Auseinandersetzung zwischen Torck und Oer kippte ins Handgreifliche um. Oer landete einen Faustschlag im Gesicht des Torck, und da beide ihre Diener dabei hatten, lag eine Massenkeilerei in der Luft.

In diesem Moment griff der Komtur Melchior Droste zu Senden ein. Er ermahnte Oer, es wäre »nicht redlich, daß einer von Adel den andern in solcher Gesellschaft schlage«. Wutentbrannt verließ Oer daraufhin die Hochzeitsgesellschaft. Torck wollte hinter ihm her, aber einige Gäste hielten ihn zurück.

Dann, so die Zeugen, sei es wieder ruhig geworden.

Gegen acht Uhr am Abend wollte der Komtur nach Hause gehen. In Begleitung seines Bruders, des Vize-Dominus und Domherrn Jobst Droste, seines neunzehnjährigen Sohnes Johann Droste sowie einiger Lichtträger und Diener der Familie, trat er aus dem Haus des Marschalls Morrien.

Domherr von Oer, sein Freund (und Domherr) Johann von Westerholt, ebenfalls in Begleitung ihrer Diener, lungerten noch auf dem Hof herum. Offensichtlich sann Oer auf Rache, was den Komtur im Vorübergehen zu der Bemerkung veranlaßte: »Wenn es mir geschehen wäre, würde ich es nicht dulden.«

Patzig fragte Oer zurück: »Was wolltet Ihr denn tun?«

Der Vize-Dominus ahnte, daß ein neuer Streit ausbrechen könnte, und beruhigte seinen Bruder mit den Worten: »Lieber Bruder, laß uns nach Hause gehen und die Herren uns nicht kümmern«.

Also gingen die drei Drostes weiter. Sie kamen allerdings nur bis zum Aegidii Kirchhof. Hier, so die zahlreichen Augenzeugen übereinstimmend, seien Oer und Westerholt über den Komtur hergefallen. »Nun ist es Zeit!« rufend, habe Berndt von Oer als erster auf den Komtur eingestochen. Aber auch Westerholt und, wie Johann Droste aussagte, ein Mann mit einem weißen Wams seien auf den bereits schwerverletzten Komtur losgegangen.

Wennemar Willinck, ein Diener des Vize-Dominus, berichtete, nicht nur die beiden Domherren, auch ihre Diener hätten »vom Leder gezogen« und nach ihm, Willinck, gestochen, aber nur seine Kleider zerfetzt.

Zusätzlich zu den belastenden Aussagen fanden sich auch die samtenen Hüte und Pantoffel der Domherren Oer und Westerholt an der Stelle auf dem Aegidii Kirchhof, wo der Komtur gestorben war.

Soweit der ziemlich eindeutige Sachverhalt, der den Stadtrat in eine Zwickmühle brachte. Denn Oer und Westerholt hatten sich auf eine Immunität, ihre Wohnungen am Domplatz, zurückgezogen.

 

 

Westfassade des Domes und Domplatz zu Münster, 1784

 

 

* * *

 

Um 1600 hatte Münster etwa 10.000 Einwohner. Innerhalb der Stadtmauern (die dem heutigen Promenadenring entsprechen) wurden noch Ackerbau und Viehzucht betrieben. Für die damaligen Verhältnisse war Münster jedoch eine große Stadt, genauer gesagt, die größte, reichste und selbstbewußteste des Stiftes, das von einem Fürstbischof regiert wurde.

Die münsterschen Bürger, an ihrer Spitze der 24köpfige Stadtrat, pochten auf die alten Rechte und Privilegien der Stadt, was zu ständigen Konflikten mit den absolutistisch gesinnten Fürsten führte. Eines dieser Rechte war die eigene Gerichtsbarkeit. Der Rat beanspruchte sie nicht nur für zivile Streitigkeiten, sondern auch für kriminelle Delikte. Zwar ernannte der Bischof den Richter, der dem »Peinlichen Gericht« (bei Verbrechen gegen Leib und Leben) vorsaß, der Rat degradierte dieses Amt jedoch zu einem rein repräsentativen. Tatsächlich fällte der Stadtrat das Urteil über die Beschuldigten und ließ es anschließend vom Richter verkünden.

Allerdings gab es eine große Ausnahme von dieser Regel. Die juristische Zuständigkeit der Stadt erstreckte sich nicht auf »geistliche Personen« und nicht auf kirchliches Gelände innerhalb der Stadt. Diese Immunitäten vor allem der Domplatz und die Klöster durften von den städtischen Botmeistern (= Bedienstete, die die Gebote des Rates überbrachten) nicht betreten werden.

Andererseits stand dem Rat nach dem am 13. August 1558 zwischen der Stadt Münster und dem Fürstbischof geschlossenen Vertrag das Recht zu, geistliche Personen, »welche in der Stadt todeswürdige Verbrechen begangen hatten«, festzunehmen und sie »ungestocket und ungeblocket« (= ungefesselt) auf St. Mauritz Pforte festzusetzen, wo sie dann den Beamten des Fürstbischofs übergeben wurden.

Hintergrund dieser komplizierten Rechtslage war das seit nahezu einem Jahrhundert gespannte Verhältnis zwischen der Stadt und dem Fürstbischof. Nach der Zeit der Wiedertäufer, die 1534/35 in Münster die Macht übernommen hatten, war von Bischof Franz von Waldeck zunächst ein Statthalter eingesetzt worden. Dieser Statthalter, Berndt von Oer (ein älterer Verwandter des erwähnten Domherren), führte die Aufsicht über die Stadt und war, wie der Wiedertäufer-Chronist Kerßenbrock schreibt, Bürgermeister, Ratsherr und Stadthauptmann in einem.

Erst allmählich, mit den Restitutionsakten von 1541 und 1553, erhielt die Stadt ihre alten Rechte zurück, vor allem das Recht, mit dem Stadtrat die eigene Obrigkeit zu wählen. Trotzdem gab es weiterhin Auseinandersetzungen über die Hoheitsrechte, und die Stadt setzte sich nicht selten über fürstbischöfliche Anordnungen und Einwände des Domkapitels hinweg. Erst 1661, als Bischof Christoph Bernhard von Galen die Stadt erneut eroberte und sie zur fürstbischöflichen Residenzstadt machte, wurden alle demokratischen Stadtrechte außer Kraft gesetzt.

 

* * *

 

Aufgrund seiner Ermittlungen nahm der Stadtrat an, daß der Mord an dem Komtur Melchior Droste vorsätzlich geschehen sei. Er ließ die Ausgänge des Domplatzes besetzen und die Stadttore schließen. Dann verlangte er vom Domkapitel die Auslieferung der beiden Täter, um sie durch die Stadt zum Mauritztor zu bringen und dort den bischöflichen Beamten zu übergeben.

Oer und Westerholt müssen sich sehr sicher gefühlt haben. Vielleicht hatten sie auch befürchtet, daß die Stadttore unmittelbar nach der Tat geschlossen würden. Jedenfalls warteten sie erst einmal, auf die kollegiale Solidarität der übrigen Domherren vertrauend, die weitere Entwicklung ab.

Und sie verrechneten sich nicht. Das Domkapitel (das damals aus 40 Domherren bestand) wies am folgenden Tag das Ansinnen des Rates, die beiden auszuliefern, zurück. Es habe, teilte es dem Rat mit, die Herren Oer und Westerholt nach der Tat befragt, und diese hätten wohl zugegeben, sich mit dem seligen Komtur gestritten zu haben, allerdings nur »mit Worten«. An dem Mord seien sie gänzlich unschuldig. Dies gehe schon daraus hervor, daß einer der Diener die »Entleibung« gestanden habe und aus der Stadt geflohen sei. Im übrigen seien Oer und Westerholt grundsätzlich zu einem Gerichtsverfahren bereit, böten eine Kaution an und seien deshalb, nach Ansicht des Domkapitels, nicht weiter zu verfolgen. Mit anderen Worten: Der Stadtrat solle die Sache vergessen.

Das tat er aber nicht. Der Rat konterte den Bescheid des Domkapitels mit einem förmlichen Protest und setzte seine Ermittlungen fort.

Bislang war der Bruder des Komturs, der Vize-Dominus Jobst Droste,...