Islam in Europa: Religiöses Leben heute. Ein Portrait ausgewählter islamischer Gruppen und Institutionen

von: Dietrich Reetz (Hrsg.)

Waxmann Lehrbuch, 2010

ISBN: 9783830973812 , 248 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 25,10 EUR

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Islam in Europa: Religiöses Leben heute. Ein Portrait ausgewählter islamischer Gruppen und Institutionen


 

Die Islamische Gemeinschaft Millî Görüs im Spannungsfeld von transnationaler Dynamik und deutscher Islampolitik (S. 109-110)

Schirin Amir-Moazami

1. Entstehung und Geschichte

Bei der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüs (IGMG) handelt es sich um eine Moschee- und Kulturvereinigung von Muslimen mit mehrheitlich türkischem Hintergrund. Obwohl die Organisation in Deutschland und Europa fest etabliert ist, unterhält sie umfassende Beziehungen zur Türkei. Nach einem Überblick über die Entstehung und die Entwicklung der Bewegung in der Türkei folgt eine Darstellung der Geschichte und der Strukturen der IGMG in Deutschland. Ein besonderes Augenmerk richtet der Beitrag schließlich auf das Verhältnis zwischen IGMG und staatlichen Behörden, das die Entwicklung der Organisation entscheidend mitgeprägt hat.

Unter der Bezeichnung Türkische Union Europa e.V. gründete sich die Bewegung im Jahr 1976 in Köln und benannte sich 1982 in Islamische Union Europa e.V. um. Innerhalb der Islamischen Union kam es 1984 zu vehementen Auseinandersetzungen um das politische Profil des Vereins. Dieser Richtungsstreit, der in der Person von Cemaleddin Kaplan (1926-1995) gründete, wurde im Herbst 1984 mit der Abspaltung Kaplans und seiner Anhänger beigelegt.

Nach diesen Auseinandersetzungen wurde im Frühjar 1985 die Vereinigung der neuen Weltsicht in Europa e.V. (Avrupa Millî Görüs Teskilatlari, AMGT)1 in Köln gegründet. Ende 1994 benannte sich die AMGT in Europäische Moschee-und Unterstützungsgemeinschaft e.V. (EMUG) um. Anfang 1995 erfolgte auch die Umbenennung eines seit 1992 in Bonn bestehenden AMGT-Ortvereins in Islamische Gemeinschaft Millî Görüs e.V. (IGMG).

Während sich die EMUG primär an der Finanzierung des religiösen Lebens von Muslimen in Europa und analog dazu am Kauf von Immobilien beteiligt, widmet sich die IGMG vor allem der sozialen, politischen und religiösen Arbeit. Die folgende Darstellung wird sich auf die Aktivitäten und Entwicklungen der IGMG konzentrieren. Ihre Entstehungsgeschichte in Deutschland bzw. Westeuropa ist wie bei den meisten anderen islamischen Dachorganisationen sowohl im Kontext der Migration als auch im Zusammenhang mit transnationalen Dynamiken zu verstehen. Vor allem in den Anfangsjahren war die religiös-politische Ausrichtung der IGMG eng mit den politischen Entwicklungen in der Türkei verschränkt.

Die Entstehungsgeschichte der Bewegung in der Türkei lässt sich nur vor dem historischen Hintergrund der Gründung der türkischen Republik 1923 und der damit verbundenen verstärkten Institutionalisierung einer laizistischen, bisweilen auch antireligiösen Praxis verstehen. Zu den bedeutendsten vom Republikgründer Kemal Atatürk (1881- 1938) eingeleiteten republikanischen Reformen zählt die Einrichtung einer staatlichen Religionsbehörde (Diyanet Isleri Baskanligi), die Religion seither im öffentlichen Raum staatlich reguliert (hierzu Tezcan 2003, 61-104).

Diese Maßnahmen beinhalteten auch die Schließung von religiösen Orden und Bildungseinrichtungen. Ein Gesetz von 1925 ächtete die Sufi-Orden und versuchte, diese künftig aus der Republik zu verbannen. Im Anschluss an dieses Verbot verschwanden zwar tatsächlich äußere Symbole der Sufi-Orden, die Orden selbst blieben aber weiterhin bestehen. Als der neue türkische Staat die Weiterführung dieser Orden bemerkte, griff er zu rigideren Maßnahmen. Es setzte eine Welle von Verhaftungen, Verbannungen und Hinrichtungen, insbesondere um den Naksibendi-Orden,2 ein (Algar 1984, 176).