Tödliches Solo

von: Brigitte Bracht, Gerhard Bracht

Waxmann Verlag GmbH, 2009

ISBN: 9783830971214 , 272 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 9,99 EUR

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Tödliches Solo


 

– 1 –

 

 

Die Hauptattraktion waren an diesem Abend die „Equals“, die Band, die im Jahr 1966 „Baby come back“ herausgebracht hatte, vor allem im benachbarten Holland und Deutschland ziemlich erfolgreich tourte und von den Radiosendern rauf und runter gespielt wurde. Neben den „Equals“ sollten auf dem Jugendball noch „Creation“ und außer uns ein paar andere lokale Bands auftreten.

Ob wir früh oder eher spät, als Vorgruppe oder als Hauptband, auftraten, war uns egal. In den 60er Jahren waren die Hallen schon zu Beginn eines Festivals voll, erst viel später, in den 90er Jahren, war es wichtig für eine Band, auf keinen Fall als Erste zu spielen, denn am frühen Abend waren kaum Zuhörer da. Für uns war es wichtig, dass wir überhaupt dabei waren. Wir waren „Hi-You-­There“, selbstverständlich die beste aller Lüdenscheider Beatbands, und wir schafften es immer wieder, einen „Termin“ bei einem der Lüdenscheider Jugendbälle zu bekommen. Damals hieß das so: „Termin“. Wir hatten viele davon, alle in der näheren Umgebung, die meisten natürlich in Lüdenscheid, aber auch mal in Heedfeld, dem kleinen Dorf sechs Kilometer nördlich von Lüdenscheid oder, südlich der Bergstadt, in Herscheid, Peterchens Heimatdorf. Dabei kam es uns nicht darauf an, ein paar Mark Gage mit nach Hause zu nehmen, wir wollten einfach nur spielen, spielen, spielen. Erst Jahre später – Hi-You-There gab es schon gar nicht mehr – machten wir es dann wie die Amerikaner und nannten unsere Auftritte „Gig“. Bis wir das dann, Mitte der 70er, affig fanden. Von da an hießen unsere Auftritte „Strippen“. Wer von uns Musikern das Wort eingeschleppt hatte, weiß ich nicht mehr; es hatte nichts mit Striptease, wie Richi meinte, zu tun, wahrscheinlich spielte es einfach auf die Strippenzieherei an, mit der es Musiker in den 70ern mehr und mehr zu tun bekamen, als die Anlagen immer aufwändiger und größer und natürlich auch lauter wurden.

Der Jugendball fand schon zum vierten oder fünften Mal statt, und die Beatfans standen schon ab vier Uhr vor den Türen der Lüdenscheider Schützenhalle, um eine Eintrittskarte zu ergattern. Mein Zwillingsbruder Richi und ich wurden von Mutter Waltraud mit unserem Equipment – wir hatten noch keinen Führerschein – zum Bühneneingang an der Rückseite der Halle gefahren. Dort trugen wir unsere Instrumente die wenigen Stufen hinauf, um sie im hinteren Bühnenbereich, hinter dem schweren roten Vorhang abzustellen. Viel hatten wir damals noch nicht. Richi spielte eine Halbakustikgitarre, irgendeinen namenlosen Gibson-Nachbau, Peterchen spielte seine halbakustische Framus, und ich hatte dem Bassisten von „Sir John and the Starfighters“ aus Iserlohn einen Beatlesbass abgekauft, für stolze vierhundert DM. Unsere Verstärker waren von der deutschen Firma Echolette, Richi hatte den Showstar, ich einen BS 40. Mein Traum war ein Bassverstärker von Vox oder ein Orange, aber das war für uns als Schülerband nicht zu bezahlen. Und dann war da noch der Leinensack, in dem früher die Stangen von Tante Lores Steilwandzelt verpackt waren, mit den drei Mikrofonstativen. Das Schlagzeug und Peterchen mit seinen Instrumenten waren noch nicht eingetroffen, Richi und ich waren die Ersten.

Es war ein gutes Gefühl, am Bühneneingang nicht groß erklären zu müssen, dass wir die Band Hi-You-There waren, sondern direkt vom Türsteher erkannt zu werden.

„Hallo Jungs, ihr seid aber früh dran, ihr spielt doch erst um acht!“

Ich antwortete, „Hi Alter“ – ich sagte immer Alter, wenn ich einen Namen, an den ich mich eigentlich erinnern müsste, vergessen hatte – „wir wollen sehen, wie die anderen Bands das machen, die Equals und die Paintermans.“

Schon damals ahnten wir, dass es Situationen im Leben gibt, in denen man cool wirken sollte, vor allem als Musiker. Darum musste der Türsteher nicht unbedingt wissen, dass wir deshalb schon um drei Uhr nachmittags da waren, weil unsere Fahrerin Mutter Waltraud um vier noch eine Probe mit ihrem Chor in der Heedfelder Kirche hatte.

Die „Paintermans“ waren die Beatmusiker der englischen Band „Creation“, die im April 1967 mit „Painter Man“ ihren größten Hit hatte: Platz acht der deutschen Hitparade. Der Gitarrist Eddie Phillips spielte seine Gitarre zeitweise mit einem Geigenbogen, das war sein Markenzeichen. Wir wussten, dass Jimmy Page von Led Zeppelin das auch tat, erfunden hatte er es aber nicht, Eddie Phillips war der Erste. Wir von Hi-You-There wussten jedoch nicht, ob wir „Painter Man“, was wir selbst im Repertoire hatten, spielen sollten oder nicht. Peterchen hatte keinen Geigenbogen, und außerdem spielten wir im Vorprogramm der Schöpfer von „Painter Man“, der Profiband aus England. Zu guter Letzt siegte unser Selbstbewusstsein: Wir könnten das mindestens genauso gut wie Creation, und in Lüdenscheid waren wir bestimmt genauso bekannt wie die Engländer. Und der Türsteher bestärkte uns darin.

„Jungs, ihr macht das schon, was die Inselrocker können, das könnt ihr auch.“

„Okay, wir geben alles, bis später!“, bedankte ich mich und wandte mich an Richi.

„Ich geh mir mal kurz die Beine vertreten.“

„Gute Idee, ich komme mit!“

Vom Hintereingang, durch den wir gekommen waren, betraten wir die Halle. Die Schützenhalle war im Jahr 1900 fertiggestellt worden und, das hatte unser Deutschlehrer Werner Schmermbeck irgendwann einmal erzählt, war ein stark vom Jugendstil beeinflusster, neubarocker Großbau nach dem sakralen Baumuster einer Basilika. Die Halle gehörte, wie sollte es anders sein, der Lüdenscheider Schützengesellschaft und ist seit 1984 in der Denkmalliste der Stadt Lüdenscheid eingetragen. Die architektonischen Besonderheiten der Halle waren Richi und mir aber ziemlich einerlei, für uns zählte nur, dass die Halle an die 2000 Beatfans fasste, und auf die kam es uns an. Wir würden alles geben, um uns von unseren Fans feiern zu lassen. Auf der Bühne hatten irgendwelche Techniker, vielleicht waren es auch Musiker, ihre Verstärker auf Stühle an den hinteren Rand des Bühnenvorbaus, direkt vor den schweren, roten Vorhang gewuchtet und versuchten ihren Instrumenten erste Töne zu entlocken.

„Den Verstärker hätte ich auch gern!“, sagte Richi.

„Vergiss es, zu teuer. Aber vielleicht lassen die uns ja über ihre Klamotten spielen, fänd’ ich klasse! Lass uns die Jungs doch gleich mal fragen!“

„Das wär’ wirklich klasse!“ Heute sagt das kaum noch jemand, aber, wenn uns damals, im Jahr 1967, etwas besonders gefiel, dann war das „klasse“, und zu übertreffen war das nur noch mit „bärig“.

Wir gingen wieder zurück zum Bühneneingang, wo sich die schwere Tür einen Spalt weit geöffnet hatte, durch den sich Peterchen gerade zwängte.

„Klasse, ihr seid schon da, dann packt doch mal eben am Vox an. Das Schlagzeug kommt auch gerade!“

„Okay!“ Ich packte kurz an, Richi war schon wieder irgendwo anders, das war er immer, wenn es etwas zu schleppen gab, und wir stellten den Verstärker zu unserer Ausrüstung. Peterchen zeigte auf den Leinensack mit den Mikrofonstativen und fragte, „Warum habt ihr die denn mitgebracht? Brauchen wir etwa Mikros?“

„Eher nicht, ich vermute, Mutter Waltraud hat den Sack einfach so dazugepackt, als wir ihren Wagen vollgeladen haben. Die bauen die Gesangsanlage von den Equals auf, glaube ich.“

In diesem Moment trat ein Schwarzer, ein riesiger Kerl mit einem unglaublichen Bodybuilderkreuz, vermutlich gehörte er zu den Equals, zu uns und blaffte uns auf ziemlich Hochdeutsch an: „Hört mal zu, Jungs, hier spielen gleich die Equals und Creation, packt euren Scheiß da weg, wir brauchen Platz! Und zwar ein bisschen dalli, oder es knallt!”

„Und wohin?“, fragte ich kleinlaut.

„Wir spielen nämlich auch gleich“, ergänzte Peterchen etwas weniger kleinlaut.

Doch bevor der Muskelprotz rabiat werden konnte, eilte uns der Türsteher zu Hilfe. „Kommt her, Jungs, ich helfe euch, wir schleppen den Kram wieder runter und stellen alles in die Ecke am Eingang.“

„Danke, okay. Alter, das ist echt stark von dir!“

Gesagt getan, wir trugen die Verstärker wieder von der Bühne herunter, stellten sie neben die Tür am Hintereingang und legten die Gitarren und den Sack mit den Stativen oben drauf.

Wir waren gerade damit fertig, als Richi wieder auftauchte.

„Kommt, gleich spielen die Jungs von Lajos Fa! Lasst uns die kurz angucken, dann noch eine halbe Stunde, und wir sind dran. Aber keine Sorge, wir sind echt besser!“

Natürlich waren wir besser, aber trotzdem wurde ich langsam nervös. Vor einem Auftritt werde ich immer nervös. Es war nach fünf Uhr, die Jungs von Lajos Fa hatten schon angefangen, sie versuchten sich gerade an einer schnellen Version von „Sergeant Pepper“. Die Sauerländer Beatfans standen dicht gedrängt vor der Bühne. Wir hatten noch etwas Zeit, also mischten wir uns unter das Volk, um den einen oder anderen Bekannten, Klassenkameraden oder, noch besser, das eine oder andere Mädchen zu treffen. Die Halle war gut gefüllt, es waren etwa 1800 Jugendliche angereist, vermutlich um Creation und die Equals zu sehen, sicher aber auch viele, um Hi-You-­There mal wieder zu hören. Ich entdeckte etliche Bekannte. Sie hatten sich alle ein wenig zurechtgemacht, einige hatten schon Schlaghosen, ein paar wenige sogar Blümchenhosen, und die Mädchen hatten sich dicke schwarze Balken um die Augen gemalt. Viele waren allerdings noch mit weißem Hemd, Sakko und sogar Schlips erschienen. Über Richi und mich hatten unsere Eltern...