Das Geheimnis der Tulpenzwiebel - Freigraf Kettelers zweiter Fall

von: Jürgen Kehrer

Waxmann Verlag GmbH, 2014

ISBN: 9783830950820 , 160 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 9,99 EUR

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Das Geheimnis der Tulpenzwiebel - Freigraf Kettelers zweiter Fall


 

Viertes Kapitel

Martin Tewes, Jesuitenpater und Lehrer am Gymnasium Paulinum, schreckte aus dem Schlaf auf. War das nicht ein Schrei gewesen? Oder hatte ihn ein Alptraum gequält? Martin horchte in die Nacht hinaus. Undurchdringliche Stille umgab das Jesuitenkolleg, das sich zwischen Domplatz und Aa befand, weitab vom Trubel der Gassen, in denen betrunkene Soldaten, Huren und Schausteller bis tief in die Nacht lärmten. Vielleicht hatte sich ein Säufer auf das Gebiet der Domimmunität verirrt?

Martin legte sich wieder auf die strohgefüllte Matratze. Er schloß die Augen und versuchte weiterzuschlafen. Doch eine seltsame Unruhe erfüllte ihn, die Ahnung eines Unglücks, das sich zugetragen hatte. Er lauschte erneut, und diesmal vermeinte er das Getrappel von Schritten zu hören, verhaltene Stimmen, die sich im Inneren des Gebäudes unterhielten.

Martin sprang aus dem Bett und warf seine Kutte über. Die kleine Kammer war gerade groß genug, um das Bett, einen schmalen Tisch, einen Stuhl und ein Waschgestell aufzunehmen. Das Leben eines Jesuiten war geprägt von Armut und Demut. Martin hatte es bewußt auf sich genommen, er vermißte weder die Prasserei und Völlerei vieler Angehöriger der Amtskirche, noch das lockere Leben der Domherren und jener sogenannten Bischöfe, die es vorzogen, mit ihren Mätressen im Bett zu liegen, anstatt eine Messe zu lesen. Martin liebte seinen Beruf als Lehrer. Normalerweise.

Es klopfte an der Tür, und Martin hörte die Stimme von Bruder Norbert, einem Laienbruder, der in der Küche arbeitete: „Bruder Martin! Wacht auf!“

Martin riß die Tür auf. „Was ist geschehen?“

„Ein Unglück. Einer Eurer Schüler ...“

Martins Stimme zitterte, als er Norberts erschrockenes Gesicht sah. „Wer?“

„Henrich Witvogel. Er ist tot.“

Martin mußte sich am Türrahmen festhalten. „Wie?“

„Er ist das Treppenhaus hinabgestürzt.“

Für einen Moment fürchtete er, das Bewußtsein zu verlieren. Murmelnd sprach er ein Gebet, die formelhaften, tausendmal gehörten Sätze beruhigten ihn etwas. Das Bild des Jungen entstand vor seinem geistigen Auge. Ein schüchterner, linkischer Knabe, ein Einzelgänger, der bei den üblichen Streichen und Torheiten seiner Klassenkameraden nicht mitmachte. Henrich war nicht der schlaueste, aber einer der eifrigsten Schüler gewesen. Martin sah den hochgereckten Kopf, das blasse, stets angespannte Gesicht, das jedes seiner Worte verfolgte. Ja, Henrich hatte ihn bewundert, seine Nähe gesucht, und Martin hatte ihn zurückgestoßen. Ihm war die Verklemmtheit des Jungen zuwider gewesen, dessen zwanghafter Ehrgeiz, alles richtig zu machen. Zweifellos hatte sich Henrich einsam gefühlt. Als Waise, der nur dank eines Stipendiums das Gymnasium besuchen durfte, war er früh in die Welt geworfen worden. Und Martin hatte sich geweigert, den Ersatzvater zu spielen. War er mitschuldig am Tod des Jungen?

„Hat er sich selbst entleibt?“

„Das weiß ich nicht, Bruder“, antwortete Norbert, der Martin mit steigender Unruhe beobachtete. „Der Bruder Rektor hat mir befohlen, Euch zu holen. Und ich denke, wir sollten jetzt aufbrechen.“

„Ja, natürlich.“ Martin rief sich zur Ordnung und folgte dem Laienbruder, der die Treppe hinuntereilte. Sie verließen das Gebäude und überquerten den Innenhof des Kollegs, das zusammen mit der Petrikirche ein geschlossenes Quadrum bildete. Das Schulgebäude lag auf der anderen Seite einer kleinen Gasse, hinter der Petrikirche, die die Jesuiten bei ihrer Ankunft in Münster gebaut hatten.

Am Fußende der Treppe hatten sich bereits etliche Patres versammelt, und über die Geländer der oberen Stockwerke beugten sich Trauben von Schülern. Ein Summen wie in einem Bienenstock lag in der Luft.

„Da seid Ihr ja endlich, Bruder Martin“, rief der Rektor, der seine Gereiztheit nicht verbarg. „Ihr seid der Lehrer dieses Schülers, nicht wahr?“

„Ja, er war in meiner Klasse“, murmelte Martin. Ohne den Rektor zu beachten, kniete er neben der Leiche nieder. Henrich Witvogels Kopf lag in einer großen Blutlache, sein längliches Gesicht war noch schmaler geworden, es zeigte den verbissenen, ängstlichen Ausdruck, der auch dem Lebenden oft zueigen gewesen war. Hätte nicht ein mitfühlender Pater die Augenlider des Toten zugedrückt, Martin wäre sicherlich dem fragenden, unendlich einsamen Blick des Jungen begegnet.

Der Jesuit faltete die Hände und sprach ein Gebet. Dann erteilte er Henrich die Absolution. Nach kirchlicher Lehre verließ die Seele den Körper erst Stunden oder sogar Tage nach dem Tod. Und Martin wünschte sich sehr, daß die Seele des Jungen Ruhe finden möge.

„Was soll das?“ fuhr ihn der Rektor an. „Der Unglückselige hat Selbstmord begangen. Einem Todsünder können wir keine Absolution erteilen.“

Martin stand auf. „Gibt es einen Augenzeugen?“

„Nein. Das heißt, wir wissen es nicht.“

„Dann besteht auch die Möglichkeit, daß er ermordet wurde. Habe ich recht, Bruder Rektor?“

Der Rektor verdrehte die Augen. „Malt nicht den Teufel an die Wand! Ein Mörder in unserer Schule wäre ja noch schlimmer. Die Jesuitenhasser in der Stadt werden mit Fingern auf uns zeigen.“

Martin deutete nach oben. „Die Schüler“, sagte er matt. „Sie sollten in ihre Schlafräume gehen.“

Verärgert, als habe er sie bislang nicht bemerkt, betrachtete der Rektor die Zuschauer. „Richtig!“ Er klatschte in die Hände. „Brüder, kümmert Euch darum! Und Ihr, Bruder Martin, findet heraus, wie Henrich Witvogel zu Tode gekommen ist. Ich erwarte Euch um sechs Uhr in meinem Gemach, und zwar mit einer vollständigen Erklärung. Ich möchte, daß die Sache abgeschlossen ist, bevor die Sonne aufgeht.“

„Ich werde mein Bestes tun“, stöhnte Martin. „Aber ich kann nichts versprechen.“

„Keine Ausflüchte, Bruder Martin!“ beschied ihn der Rektor knapp, drehte sich auf dem Absatz um und rauschte davon.

Inzwischen hatten die anderen Patres die Schüler in ihre Schlafräume getrieben. Martin stieg langsam die Treppe hinauf. Henrich Witvogel hatte in einem Schlafraum im dritten Stockwerk gewohnt. Martin nahm die Öllampe aus der Halterung und untersuchte sorgfältig den Boden und das Geländer, aber er konnte nichts entdecken, was auf einen Kampf hindeutete.

Dann betrat er den Schlafraum, in dem Witvogels neunzehn Klassenkameraden lagen. Es war mucksmäuschenstill, ein sicheres Zeichen, daß alle hellwach waren, obwohl sie sich schlafend stellten.

„Also“, sagte der Pater laut, „wer hat etwas gesehen oder gehört?“

Neunzehn Köpfe schossen nach oben.

„Ich habe geschlafen“, kam es aus einer Ecke.

„Ich auch“, rief ein anderer. Immer mehr Stimmen schallten durcheinander.

„Halt!“ donnerte Martin. „Gibt es einen unter euch, der nicht geschlafen hat? Hat jemand bemerkt, wie Henrich den Raum verlassen hat?“

Die Stimmen verstummten.

„Niemand?“

Betretenes Schweigen.

„Ich möchte euch noch etwas anderes fragen. Bitte denkt genau nach! Hat Henrich in letzter Zeit geäußert, daß er lebensmüde sei oder sich umbringen wolle?“

Keine Antwort.

„Na schön. Dann schlaft jetzt! Ich werde morgen früh mit jedem einzelnen sprechen. Bis dahin könnt ihr eure Erinnerung auffrischen.“

Martin ging zu dem Bett, in dem Henrich bis vor kurzem gelegen hatte. Es war noch warm, und mit einem leichten Schauder fühlte der Pater den Abdruck, den der schmale Körper auf der Strohmatratze hinterlassen hatte. Die Hoffnung, einen Abschiedsbrief oder Tagebuchaufzeichnungen zu finden, erfüllte sich nicht. Auch der Leinensack unter dem Bett, in dem Henrich seine privaten Sachen aufbewahrt hatte, gab keinen Aufschluß. Er enthielt einige ordentlich gefaltete Kleidungsstücke, Schulbücher und Schreibgerät, aber nicht die geringste persönliche Aufzeichnung. Fast schien es so, als habe Henrich Witvogel überhaupt nicht existiert.

Martin setzte sich auf das Bett und überlegte. Konnte es sein, daß sich ein fünfzehnjähriger Schüler umbrachte, ohne den leisesten Hinweis zu geben? Oder hatte der Mörder etwas entfernt, das ihn belastete? Martin seufzte. Der Rektor hatte ihm eine schier unmögliche Aufgabe gestellt.

„Es tut mir leid, daß ich mich nicht in der Lage sehe, Eure Erwartungen zu erfüllen. Ich denke, wir sollten den Freigrafen der Stadt, Bernd Ketteler, benachrichtigen und ihn bitten, die Untersuchung zu führen. Ketteler ist ein Mann von klugem Verstand, er würde unvoreingenommen und unbe­lastet durch persönliche Gefühle an die Aufgabe herangehen.“

Der Rektor runzelte die Stirn und betrachtete Martin mißmutig. „Habt Ihr nicht zusammen mit diesem Ketteler einige rätselhafte Mordfälle aufgeklärt?“

„Ich bitte um Verzeihung, daß ich Euch widerspreche, Bruder Rektor. Ich habe den Freigrafen lediglich beraten. Ich bin Priester und Lehrer, aber kein Polizist. Hier ist die Umsicht und die Erfahrung eines Kriminalisten erforderlich.“

Der Rektor schüttelte den Kopf. „Wir befinden uns auf einer Immunität der Kirche, zu der die städtische Justiz keinen Zugang hat. Ich möchte nicht, daß sich die Polizei im Paulinum herumtreibt. Zieht den Freigrafen zu Rate, wenn es Euch dienlich erscheint! Doch Ihr allein seid mir dafür verantwortlich, die Fragen zu beantworten, die sich um den Tod dieses Jungen ranken.“

„Henrich Witvogel war mein Schüler“, protestierte Martin. „Ich...