Kollektive Identitäten im Nahen und Mittleren Osten. Studien zum Verhältnis von Staat und Religion

von: Rüdiger Robert (Hrsg.), Daniela Schlicht (Hrsg.), Shazia Saleem (Hrsg.)

Waxmann Verlag GmbH, 2010

ISBN: 9783830973942 , 505 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: frei

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Preis: 40,40 EUR

Mehr zum Inhalt

Kollektive Identitäten im Nahen und Mittleren Osten. Studien zum Verhältnis von Staat und Religion


 

Identität durch Recht und Gesetz (S. 253-254)

Anna Catharina Müller und Shazia Saleem

Grundlagen

„From state to nation“ oder „from nation to state“ (Habermas 1996: 128) sind die beiden ide altypischen Wege, auf denen die Konstruktion eines Nationalstaats erfolgen kann. Dass ein Territorialgebilde zum Bezugsrahmen kollektiver nationalstaatlicher Identität wird, ist auf beiden Wegen möglich.

Es kann zunächst das Staatswesen mit seinen Strukturen und Prozessen geschaffen und im Nachhinein mit Merkmalen der Identität ‚gefüllt‘ werden. Andersherum ist es aber auch möglich, bereits existierende, durch gemeinsame Merkmale wie Abstammung, Sprache oder Religion gekennzeichnete Gruppen zu einem Gemeinwesen zusammenzufassen und dieses sodann institutionell durch einen Staatsaufbau abzustützen. Nationalstaaten sind als formal-rechtliche und politische Entitäten eine europäische Erfi ndung. Ihr Kennzeichen ist gemäß der ‚Drei-Elementen-Lehre‘ Georg Jellineks das Vorhandensein eines Staatsgebietes, eines Staatsvolks und einer Staatsgewalt (vgl. Wolffgang 42007: 59 ff.).

Die Institutionen, die die Staatsgewalt ausüben, bedürfen dabei einer Legitimation durch das Volk. Diese beruht auf der Überzeugung, dass die Ordnung menschlichen Zusammenlebens auf der Handhabung konsensualer Werte beruht, also nicht willkürlich erfolgt. Die sich daraus ergebende Identität spiegelt sich in Recht und Gesetz wider bzw. wird durch Recht und Gesetz geformt.

Dazu gehören auch (geschriebene) Verfassungen, also Normen, die die politische und rechtliche Grundordnung eines Gemeinwesens ausmachen (vgl. Robert/Wittkämper 42007: 69 f.). Verfassungen sind Bestandteil des Prozesses westlicher Staats- und Nationenwerdung. Ihr Zustandekommen ist eng mit dem Gedanken der Volkssouveränität verbunden. Das trifft für die Länder des Nahen und Mittleren Ostens zumindest nicht in demselben Umfang zu. Als territoriale Einheiten sind diese Länder bzw. Staaten überwiegend Kunstprodukte des 20. Jahrhunderts. Deshalb bieten sie für ihre Bevölkerung auch keinen selbstverständlichen Bezugsrahmen. Kollektive Identität ist vielfach nicht von unten gewachsen, sondern muss von oben geschaffen werden.

Das wirft die Frage nach der Bedeutung von Recht und Gesetz – insbesondere von Verfassungen – für die Konstruktion nationalstaatlich-partikularistischer Identität auf. Eine Verfassung ist ein Dokument über die rechtliche und politische Grundordnung eines Gemeinwesens (vgl. ebd.: 69). Dabei kommt den Umständen, unter denen sie verabschiedet und in Kraft gesetzt worden ist, große Wichtigkeit zu. Geht die Staats- der Nationenbildung voraus und wird von einer politischen Elite vorangetrieben, ist die Verfassung Teil eines ‚top-down‘ gesteuerten Formierungsprozesses.