Differenz und Dialog

von: Ephraim Meir

Waxmann Verlag GmbH, 2011

ISBN: 9783830975113 , 248 Seiten

Format: PDF

Kopierschutz: frei

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's

Preis: 25,10 EUR

Mehr zum Inhalt

Differenz und Dialog


 

2 Neuinterpretation des Judentums im deutschen Kontext: über deutsch-jüdische Denker als Juden und Deutsche (S. 114-115)

In seinem Essay „The non-Jewish Jew“ schrieb Isaac Deutscher über jüdische „Häretiker“, die sich über ihre Gesellschaften, Nationen und Zeit erhoben und einen großen Beitrag zur allgemeinen Kultur leisteten. Menschen mit einem schöpferischen Geist wie Baruch Spinoza, Heinrich Heine, Karl Marx, Rosa Luxemburg, Leo Trotzki und Sigmund Freud haben neue, erweiterte Horizonte geöffnet, die auch für die Zukunft wichtig bleiben.

Wie Elisha ben Abuyah, der jüdische Häretiker mit dem Beinamen ha-acher, „der Andere“, standen diese genialen und optimistischen Persönlichkeiten außerhalb der Grenzen des jüdischen Lebens, doch lieferten sie einen Beitrag zu der Kultur, in der sie lebten, dadurch, dass sie die Grenzen der Kultur, die sie mit anderen teilten, überschritten. Natürlich verstand Elisha ben Abuyah im Gegensatz zu seinen heutigen Kollegen, dass Rabbi Meir, der ihn begleitete, um von ihm zu lernen, zu der Gemeinschaft zurückkehren musste, als sie die Grenze erreichten, die Juden am Schabbat zu übertreten verboten war.265 Muss man die Partikularität leugnen, um Anteil an der allgemeinen Kultur zu haben?

In der Moderne kannte Deutschland viele „nichtjüdische“ Juden. Das vorliegende Kapitel konzentriert sich jedoch auf einige wenige deutsch-jüdische Denker, die sich von diesen nichtjüdischen Juden darin unterschieden, dass sie innerhalb des Judentums blieben, zugleich aber doch sehr an der nichtjüdischen Kultur teilnahmen. Sie standen ihrem Judentum, das sie liebten und hüteten, nicht ambivalent gegenüber. Sie interpretierten das jüdische Erbe in den Begriffen ihrer Zeit und im Dialog mit ihrer deutschen Umgebung.

Nach der Erfahrung des Nationalsozialismus ist es ein häufi g vorkommender Trugschluss, dass man die Zeit vor dem Holocaust als eine Periode wahrnimmt, in der es keinerlei Symbiose zwischen Deutschen und Juden gab. Viele Juden blieben vor dem Zweiten Weltkrieg in unterschiedlichem Maße jüdisch, während sie an der allgemeinen Kultur teilhatten. Sie entwickelten komplexe Identitäten, die sowohl der Besonderheit der jüdischen Existenz als auch dem Besten der deutschen Bildung und Kultur Rechnung trugen.

Man hört in diesem Zusammenhang oft den Begriff „Assimilation“, andere reden von „hybriden“ oder „gebrochenen“ Identitäten. Es ist wahrscheinlicher, dass die jüdische Existenz in Deutschland in einer Situation des Entgegenkommens entstand, in der sich die Identität in einem ständigen Dialog mit der andersartigen Umgebung herausbildete. Identität war und ist das Ergebnis eines Dialogs zwischen dem Gleichen und dem Anderen, zwischen dem Eigenen und Unterschiedlichen. Die humanistische und liberale Bildung gestattete es den Juden, gemeinsame Werte zu schätzen. Von deutscher Seite her wurde die Bildung, die einer humanistisch orientierten Erziehung dienen sollte, bald zu einem Instrument der Herausbildung einer kollektiven, exklusivistischen deutschen Identität.