Menno ter Braak (1902–1940). Leben und Werk eines Querdenkers

von: Léon Hanssen

Waxmann Verlag GmbH, 2011

ISBN: 9783830974642 , 398 Seiten

Format: PDF

Kopierschutz: frei

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Preis: 40,40 EUR

Mehr zum Inhalt

Menno ter Braak (1902–1940). Leben und Werk eines Querdenkers


 

5 Sterben als Querdenker (1937-1940) (S. 356-357)

5.1 Das magische Quadrat


5.1.1 Melencholia


In ter Braaks Taschenkalender von 1939 stehen ein paar Quadrate. Diese Zauberquadrate haben die gemeinsame Eigenschaft, daß die Summe aller Zahlen in den verschiedenen Reihen, horizontal, vertikal oder diagonal, immer gleich ist. Obwohl ihre Geschichte bis auf den chinesischen Kaiser Fu Hi im dritten Jahrtausend vor Christus zurückreicht, gelang es in all den Jahrhunderten nicht, ihr Geheimnis zu lüften, bis kürzlich eine hochbetagte englische Dame den Schlüssel dazu fand. Auf dem berühmten Kupferstich Albrecht Dürers mit dem Titel Melencolia I ist ein magisches Quadrat von vier auf vier abgebildet. In der unteren Reihe sind die zentralen Zahlen 15 und 14, das Todesjahr der Mutter des Künstlers und das Jahr, in dem er das Blatt vollendete.

Ter Braak muß an dieses berühmte Vorbild gedacht haben, als er seine Zauberquadrate hinkritzelte. Unter eine der drei Skizzen schrieb er: „Melencholia“. Das Quadrat der Zahlenmenge in einer Reihe, in diesem Fall 42=16 (= Planetensiegel), verweist auf die Planeten Jupiter und Saturn. In einer faustischen Interpretation des Stichs erblickt der saturnische Engel enttäuscht die Grenzen des mathematischen und technologischen Denkens und träumt von einem andersgearteten, überlegenen Wissen voll prophetischer Kraft. Die Frage nach dem Wie und Warum dieser Desillusion wurde bereits von Aristoteles gestellt (Problem XXX,1):

Warum sind alle hervorragenden Männer, ob Philosophen, Staatsmänner, Dichter oder Künstler, offenbar Melancholiker gewesen? Und zwar einige in solchem Maße, daß sie sogar unter den von der schwarzen Galle verursachten Anfällen litten, wie in der Heroensage von Herakles berichtet wird?

Von ter Braak kann mit Sicherheit behauptet werden, daß er in seinen letzten Jahren immer mehr unter den von Aristoteles beschriebenen Anfällen litt. Es waren Zustände des ärgsten „Skeptizismus“, die seine vitalistischen Auffassungen konterkarierten und seinen polemischen Instinkt total lahmlegten. Dann litt er an der unerträglichen Absenz jeglichen Richtungsgefühls und jeglichen Kontakts mit der Realität. Dasselbe Phänomen hatte Jean-Paul Sartre in seinem Debütroman 1938 thematisiert, dem er, mit einem Augenzwinkern zu dem Stich von Dürer, den Titel Melancholia gegeben hatte.

Auf Bitten des Verlegers wurde er jedoch in La nausée geändert. Das wußte sein niederländischer Kollege freilich nicht, aber es beweist, daß ter Braaks Problematik damals höchstaktuelles philosophisches Gedankengut war. Um seine „pathologischen Gleichgewichtsstörungen“ zu beschreiben, griff er zu der berühmten klassischen Darstellung Blaise Pascals:3 „Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume macht mich schaudern.“