Alltagskultur: sakral – profan. Ausgewählte Aufsätze

von: Christel Köhle-Hezinger, Anita Bagus (Hrsg.), Kathrin Pöge-Alder (Hrsg.)

Waxmann Verlag GmbH, 2011

ISBN: 9783830974253 , 292 Seiten

Format: PDF

Kopierschutz: frei

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Preis: 35,90 EUR

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Alltagskultur: sakral – profan. Ausgewählte Aufsätze


 

Protestantische Volkskultur (S. 211-212)

1. Begriff und Sache


„Von der protestantischen Volkskultur“, so Richard Weiss in seiner „Volkskunde der Schweiz“ von 1946, „sieht und greift man objektiv wenig. Im Gegensatz dazu ist die katholische Volksreligiosität reich an Schaubarem und Zeigbarem, an sinnennahen Gegenständen, welche man als Äußerung volkskundlicher Sinnenfreude, zugleich aber auch als Zeichen und Gradmesser volkstümlicher Frömmigkeit aufzufassen gewohnt ist.“

Dieser Satz war der Volkskunde Konsens, Credo und Dogma. Und auch, so meine Eingangsthese, Schutzschild und Alibi, sieht man von Karl Sigismund-Kramers umfassenden und grundlegenden Arbeiten zur Volkskultur seit den 1950er Jahren ab. Weiss’ Satz bündelte das frühe volkskundliche ‚Faszinosum Konfession‘ – von Wilhelm Heinrich Riehls Augsburger „Paritätskuriosa“ der Trachten, Kopfbedeckungen und Kaffeehäuser bis hin zu den evangelischen und katholischen Schweineställen, die für Riehl eine nicht zu erschöpfende Fundgrube der Komik darstellten.

„Katholische Überlebsel beim evangelischen Volk“ – dieser Titel von Richard Andree (1911 in der Zeitschrift für Volkskunde publiziert) trug ins 20. Jahrhundert den Glauben vom katholischen Relikt, von Reliquie, Derivat und Surrogat: vom Festhalten und der „zähen Ausdauer, die altkatholische Bräuche und Anschauungen im evangelischen Volke besitzen“. Die Volkskultur, so die Botschaft von Andree, überdauere eine „kaum 400 Jahre alte“ neue Kirche. Die Gewichtungen, genauer die gleichgewichtige Betrachtung von protestantischer und katholischer Volkskultur bereitet bis heute – nicht nur in meinem Fach – Probleme.

Im monumentalen Band „Volksfrömmigkeit in der Schweiz“, erschienen im Jahre 1999, kommt dem explizit Protestantischen bei einem Gesamtumfang von 548 Seiten kaum zehn Seiten zu: Thomas Hengartner setzt in seinem schmalen Beitrag der katholischen Volkskultur als ein gleichsam sonderkulturelles Fallbeispiel das protestantische Emmental entgegen. Angesichts der „Visibilität“ der katholischen Volksfrömmigkeit falle es „schwer, Elemente einer eigenständigen protestantischen Volkskultur zu erkennen; es seien – nach Weiss – negative Traditionen“: ein Weniger, ein Weglassen, „Verneinung und Leugnung“.

„Das konfessionelle Zeitalter war zu Ende gegangen“5: Sätze wie dieser von Christof Dipper, in solchen und ähnlichen Formulierungen die Konfessionsforschungen der Frühneuzeit durchziehend, wollen zäsieren und phrasieren. Der volkskundliche Blick sucht nach Anderem. Er sieht – um mit Victor Turner zu sprechen – das Flüssige eher als das Feste; die Unterströmung, die bleibt – bei und trotz allem Wandel. So ist „das Dorf als Verteidigungsgemeinschaft“, auch und gerade in Konfessionsdingen, weder neu noch “das Ende des konfessionellen Zeitalters“6. Es geht vielmehr um das andere Zeitmaß, um den eigenen Sinn – etwa im Kampf gegen die „tanz- und feiersüchtigen Landleute“, die Zahl der Festtage im Jahreslauf und im Zyklus des menschlichen Lebens oder um das „Hochzeitsschenken“. Es geht um andere Blicke und Grenzen, weniger um andere Quellen, Ansichten, Fragen.