Reflexionen und Perspektiven der Weiterbildungsforschung

von: Daniela Holzer (Hrsg.), Barbara Schröttner (Hrsg.), Annette Sprung (Hrsg.)

Waxmann Verlag GmbH, 2011

ISBN: 9783830974024 , 229 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: frei

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Preis: 26,90 EUR

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Reflexionen und Perspektiven der Weiterbildungsforschung


 

Slumdog Millionaire? (S. 133-134)

Andreas Oberprantacher


Leben am Rande der Normalisierungsgesellschaft

Abstract


Dieser Beitrag widmet sich auf exemplarische Weise der Frage nach dem Verhältnis von Leben und Normalität, das sich unter dem Vorzeichen aktueller wissenschaftlicher Forschung und Diskurse neu formiert. Zwei Bereiche im Rahmen dieses Anlasses hervorzuheben, in denen Normalisierung aktiv wie effektiv betrieben wird, ist mir in Anlehnung an die Arbeit von Michel Foucault ein besonderes Anliegen: Es ist dies der Bereich der sogenannten „Lebenswissenschaften“ einerseits und jener der „Krisenrhetorik“ andererseits. Diese beiden Bereiche sind meiner Ansicht nach für den Ausblick auf Bildungsperspektiven insofern von Bedeutung, als sich hier hegemoniale Ordnungen des Wissens und der Praxis, ja der wissensgeleiteten Praxis entfalten, die in den klassischen Formen der Kritik nicht leicht zu fassen sind. Wünschen besteht in Folgendem: Einschnitte machen, bestimmte Ströme fl ießen lassen, Stromentnahmen vornehmen, die Ketten durchschneiden, die sich den Strömen anpassen. Gilles Deleuze (1972)

Kurz nachdem die indisch-britische Koproduktion „Slumdog Millionaire“ unter der Regie von Danny Boyle für zehn Oscars nominiert worden war, versammelten sich am 22. Jänner 2009 aufgebrachte Bewohnerinnen und Bewohner armer und peripherer Gebiete Mumbais vor der Villa des Bollywood- Superstars Anil Kapoor, der im Film den Millionenquiz-Showmaster Prem Kumar spielt, um ihrem Unmut über die Wahl des Filmtitels und der Filmbilder Ausdruck zu verleihen.

Die 18-jährige Rekha Dhamji brachte ihren Ärger folgendermaßen auf den Punkt: „I am poor, but don’t call me slumdog. I don’t want to be referred to as a dog“ (zit.n. Jen Lee/Lim 2009, S. 2). Andere wiederum streckten ihre Botschaften in Form von Plakaten den Medien entgegen, auf denen sie sich für eine andere Wahrnehmung ihrer selbst einsetzten. „I am not a slumdog. I am the future of India“,konnte man lesen oder: „Don’t call us dogs!“ (The Asian Place 2009) In der öffentlichkeitswirksam ausgetragenen Debatte über die Politik des Films wurden darüber hinaus wiederholt Charakterisierungen wie „poverty porn“ oder „slum tourism“ vorgeschlagen, um auf die implizite Gewalt der fi lmischen Ästhetik hinzuweisen, die zahlungskräftiges Publikum ins Kino locken sollte.

Ohne an dieser Stelle näher auf die sozial- und kulturpolitischen Hintergründe und weiteren Implikationen dieser Debatte einzugehen, ist es bemerkenswert, dass sich sowohl die Befürworter/-innen des Films als auch seine Gegner/-innen wiederholt einer Argumentationsfi gur bedienten, die sich implizit auf ein gemeinsames Verständnis von sozialer „Normalität“ zu beziehen scheint: Während sich die aufgebrachten Bewohnerinnen und Bewohner Mumbais in ihrer Kritik vor allem darauf beriefen, dass sie keine Hunde seien – in Hindi steht das Wort „kutte“ für eine lange Tradition diskursiver Verachtung der Dalits und anderer sozial marginalisierter Gruppen –, sondern die Zukunft Indiens bereithielten, die zukünftige „Normalität“ des Landes sozusagen, zeigt der Film wiederum die erstaunliche, aber doch durch und durch „schicksalhafte“ Verwandlung des Jungen Jamal Malik vom Straßenjungen zum Millionär, dessen Leben in dem Maße eine außerordentliche Normalität darstellt, als es in den Augen aller Kinogängerinnen und -gänger erfolgreich gespiegelt wird.

Die als Fernsehsendung konzipierte Show „Who wants to be a Millionaire?“ dient dabei als symptomatische Wunschmaschine im deleuzschen Sinne; sie dient der quasi-mechanischen Kanalisation unbewussten sozialen Begehrens und dessen Transformation in eine verallgemeinerte Phantasmagorie: Anhand diverser Rückblenden wird gezeigt, wie sich das marginalisierte Leben Jamals langsam aus der Latrine, in die es geworfen worden war – und zwar im wortwörtlichen Sinne –, erhebt, um schließlich, mit Geld und Ruhm überschüttet und unter Anteilnahme des schmachtenden Publikums, mit seiner Kindesliebe Latika vereint zu werden.

Jamals Double und Gegenspieler Salim hingegen bleibt dem kriminellen Milieu so lange treu, bis er in einem Akt radikaler Opferbereitschaft sich selbst für das Wohl Jamals und Latikas hingibt. Er ist im Grunde jenes Opfer, das im Zuge eines umfassenden und medial inszenierten Normalisierungsprozesses erbracht werden muss, um Leben abspaltend neu in Form zu bringen. Das richtige Leben im falschen, an das Adorno nicht glaubte, ist ein geschiedenes.