Münster - Weimar und zurück - Sieglinde Zürichers zweiter Fall

von: Ursula Meyer

Waxmann Verlag GmbH, 2006

ISBN: 9783830950141 , 216 Seiten

2. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 11,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Münster - Weimar und zurück - Sieglinde Zürichers zweiter Fall


 

Erstes Kapitel

Der Garten von Gregors Opa ist dreimal so groß wie der ganze Domplatz!“

„Red keinen Unsinn, Kerstin! Einen solchen Garten gibt es in ganz Münster nicht, auch nicht am Pleistermühlenweg!“

„Aber wenn doch die ganze Klasse eingeladen ist!“

Es war Anfang Juni und wir saßen vor weit geöffneten Fenstern beim Abendessen.

Seit einigen Tagen herrschte Hochsommer. Doch als ob alle ahnten, daß er sich schon bald wieder verabschieden würde, um erst im August mit einer drückenden Hitzewelle wiederzukommen, beklagte sich niemand über die ungewohnten Temperaturen. Die Straßencafés und die Freibäder waren überfüllt. In den Abendstunden roch es auf den Terrassen, Balkons und in den kleinen Innenstadtgärten nach Holzkohle und gegrilltem Fleisch. Es war, als wäre Münster über Nacht um zehn Breitengrade südwärts verlegt worden.

Im Mordderzernat war es in letzter Zeit auffallend ruhig. Warum, das hatte mein Kollege Max Lückmann auf den Punkt gebracht: „Auch die Mörder machen immer öfter Urlaub.“

Lückmann nutzte die ruhige Lage, indem er seine Trainerstunden am Tennisplatz der Sentruper Höhe auf drei Abende pro Woche ausdehnte und seine Mittagspause mit Tageszeitung, Niveaöl und Sonnenbrille in die Grünanlagen der Anstalt Mariental verlegte. Angeblich war er dort schon mit dem einen oder anderen „leichten Fall“ ins Gespräch gekommen. Wer konnte schließlich wissen, ob Kontakte dieser Art nicht irgendwann von Nutzen waren?

Ich tat es ihm nach, weniger mit Sonnenöl und Zeitung in der Mittagspause als mit einem pünktlichen Dienstschluß. Zum gemeinsamen Abendessen mit Kerstin, zu letzten Meinungsverschiedenheiten über den optischen Eindruck ihrer schriftlichen Hausaufgaben, zum Vorlesen auf der Bettkante. Die schwülen, ewig hellen Abende, an denen die Luft stand und die Mauersegler mit schrillem Geschrei um die Hausgiebel stoben, machten das Einschlafen schwer.

Den Donnerstagnachmittag nahm ich frei, um mit Kerstin auf die Suche nach einem angemessenen Geburtstagsgeschenk für Gregor zu gehen – und zwar angemessen sowohl dem Alter des Gastgebers als auch dem Anlaß. Wie sich herausstellte, plante sie nämlich den Kauf eines Gameboys.

„Ich kaufe doch kein Weihnachtsgeschenk für jemanden, der dich einen Nachmittag lang in seinen Garten einlädt“, protestierte ich.

„Aber wenn der Garten doch so furchtbar groß ist!“ begann sie wieder. „Alle aus der Klasse sind eingeladen!“

Es war nicht schwer zu erraten, was hinter diesem Einwand steckte: der Vorwurf, daß wir keinen Garten hatten, nicht einmal einen winzigen Balkon. Dafür wohnten wir mitten in der Innenstadt auf dem Prinzipalmarkt und in der Nähe der Schule, die für Gregor nur mit dem Bus zu erreichen war.

„Und wenn die ganze Schule eingeladen wäre“, sagte ich. „Was hat die Gartengröße mit deinem Geschenk zu tun?“ Sie schwieg. „Dann kriegt er eben ein Tamagotchi!“ sagte sie dann eigensinnig.

„Ist das nicht eher was für Mädchen?“

„Findest du?“

Wir klapperten mehrere Spielwarengeschäfte ab, bevor wir bei einem Bausatz des Unglücksliners „Titanic“ aus Pappe fündig wurden. Erfreulicherweise forderte Kerstin kein zweites Exemplar für sich. Die Länge von einem Meter fünfzig, auf die das fertige Modell eskalierte, hätte unsere Zweizimmerwohnung in eine beschränkt benutzbare und eine völlig verbarrikadierte Hälfte geteilt. Aber Gregor konnte sich ja zum Basteln in den großzügig bemessenen Garten seines Großvaters zurückziehen.

Auch am Freitag nahm ich einen halben Tag Urlaub und brachte Kerstin nachmittags zum Pleistermühlenweg. Es war wieder sehr schwül. Vor uns im Osten, über Warendorf, vielleicht auch schon über Telgte, ballten sich schwefelgeränderte Haufenwolken. Aber Kerstin hatte darauf bestanden, ihr weißes Batistkleid mit Sankt Gallener Stickerei anzuziehen und dazu weiße Schuhe. Dafür hatte sie den Haarreifen in Kauf genommen, der ihre Locken beim Herumtoben zusammenhalten sollte und den sie nicht ausstehen konnte. Angeblich drückte er hinter den Ohren. Jetzt saß sie auf der Rückbank, den aufwendig mit Schleifen verschnürten Bausatzkarton auf den Knien, und schmollte.

Ein junges Mädchen öffnete uns das Gartentor. Das Geschrei und Gerenne hinter den meterhohen Tujen, die das Grundstück zur Straße abschirmten, bestätigte mir, daß wir nicht die ersten waren.

Ich hatte mir längst Gedanken darüber gemacht, wie ich diesen freien Nachmittag, den mir völlig unbekannte Großeltern bescherten, verbringen könnte, war aber auf nichts Einfallsreicheres gekommen als auf einen Einkaufsbummel. Auf meiner morgendlichen Fahrradtour zum Präsidium hatte ich schon das eine oder andere schöne Stück ausfindig gemacht. Mein Weg durch die Boutiquen und Kaufhäuser war also vorgezeichnet, und das war gut. Um halb fünf war ich nämlich mit Marion Vondembusche bei Kruse-Baimken am Aasee verabredet. Wir kannten uns seit meinem ersten Mordfall vor zwei Jahren. Damals war sie mit der Frau des Mordopfers befreundet gewesen und hatte, nachdem diese ins Rheinland gezogen war, ihre Einladungen für Vernissagen oder Parties mit wachsendem Erfolg bei mir an die Frau gebracht. Sie betrieb eine kleine Galerie am Rosenplatz, wo sie in einem klosterähnlichen Gewölbe Aquarelle aus Europa und Silberschmuck oder Keramiken aus Lateinamerika verkaufte.

Es würde nur ein kurzes Treffen, hatte sie am Telefon gesagt, weil sie noch einiges vorzubereiten hätte. Am Sonntag um halb elf ging ihre Maschine nach Frankfurt und von dort weiter nach Mexiko.

Vom Pleistermühlenweg fuhr ich über die Warendorfer Straße und den nördlichen Ring zum Präsidium, um das Auto abzustellen und meinen Weg in die Innenstadt mit dem Fahrrad fortzusetzen. An einem Freitag nachmittag wie diesem, heiß und kurz vor den großen Ferien, lag das Gebäude wie ausgestorben. Die einzigen bedauernswerten Geschöpfe, die ich drinnen angetroffen hätte, waren die Kollegen von der Bereitschaftswache im Erdgeschoß des linken Flügels.

Mir fielen zwei Frauen auf, die mit ratlosen Gesichtern vor der verschlossenen Tür standen und sich die verwaiste Pförtnerloge ansahen. Auf dem Türglas klebte noch immer die Suchmeldung von zwei Bankräubern, die in der Vorweihnachtszeit eine Sparkassenfiliale in Sprakel überfallen hatten. Ihre Gorillamienen schienen mir jeden Morgen viel Erfolg bei der Arbeit zu wünschen.

Ich kam näher. „Zu wem möchten Sie denn?“ Ein Besuch bei der Polizei, das wußte ich seit meiner Arbeit im Münchner Sittendezernat, war nicht selten mit Schwellenangst verbunden. Vor allem vergewaltigte Frauen und mißhandelte Prostituierte taten sich schwer. Da kamen plötzlich Zweifel auf, und man wußte nicht mehr, weshalb man hergekommen war, oder fand den zu meldenden Vorfall auf einmal gar nicht mehr so dramatisch.

„Wo kann man eine Vermißtenanzeige aufgeben?“ fragte die jüngere der beiden, eine hellblonde Mittdreißigerin, deren herbes Gesicht etwas Pferdeähnliches hatte.

„Drüben, im Wachzimmer“, sagte ich. „Ich bringe Sie hin. Der Haupteingang ist nur bis halb vier geöffnet.“

Sie folgten mir, und aus der Behutsamkeit, mit der die Blonde der älteren Frau die Hand auf den Arm legte, schloß ich, daß sie es war, die jemanden als vermißt melden mußte. Sie blieb weiter stumm, eine kleine Gestalt, etwa Ende vierzig, in einem unauffälligen, hellgrauen Gabardinerock und einer weißen Bluse, mit einer überdrehten Lockenfrisur, die sie offenbar selbst einlegte. Sie erinnerte mich an eine Szene aus meiner Kindheit: meine beiden Tanten, die sich vor der verschnörkelten Frisierkommode meiner Mutter gegenseitig die Haare machten, mit extra kleinen Lockenwicklern und spitzen Drahtnadeln, die Schmerzensschreie auslösten, wenn sie in die Kopfhaut stachen.

An diesem Nachmittag hatte Wachtmeister Van Beeken Dienst, einer von den älteren, verständnisvollen Kollegen, deren Aussterben in der Beamtenschaft mit ähnlichem Bedauern beobachtet wurde wie der Schwund der Narwale im Kreis der Zoologen. Von Lückmann, der in seiner Nachbarschaft wohnte, wußte ich, daß er spät geheiratet hatte und in schwierigen Verhältnissen lebte. Ein schmales Reihenhaus, vier lebhafte Kinder und eine Frau, die offenbar dem Einerlei aus Kochen, Putzen, Waschen weniger abgewinnen konnte, als die Nachbarinnen ringsum von ihr erwarteten. Und die Nachbarinnen schikanierten sie, wie es sich für eine etablierte Reihenhauszeile gehörte. Das welke Laub, das Frau Van Beeken im letzten Herbst nicht von den Rabatten links und rechts ihrer Grundstücksgrenze aufgesammelt hatte, war umgehend über den Maschendraht zurückbefördert worden. Von links und von rechts, und nicht nur das Laub, wie Van Beeken mit bitterer Stimme berichtet hatte, sondern auch einiges, was in die Restmülltonne gehört hätte. Vielleicht lag es an diesem ewig schwelenden Ärger zu Hause, daß er sich dem Strandgut der Zweifelnden, Unwilligen oder bereits Gestrauchelten mit einer beinahe schon legendären Geduld widmete.

Er erkannte mich durchs Fenster und ließ die Glastür aufschnappen. Im Wartezimmer auf der rechten Seite des Korridors saßen zwei Punks in betont entspannter Haltung, als wollten sie gegen die Ordnungsneurose ihrer Zeitgenossen demonstrieren, der sie ihre Festnahme wahrscheinlich zu verdanken hatten. Offenbar war Kollege Mausberg mit dem Fall betraut, er telefonierte gerade im angrenzenden Zimmer.

„Was kann ich für Sie tun?“ fragte Van Beeken aufmunternd. Die beiden verständigten sich mit einem kurzen Blick. Und jetzt war es die Ältere, die antwortete.

„Meine Tochter ist...