Endstation Aasee - Ein Münsterkrimi mit Sieglinde Züricher

von: Ursula Meyer

Waxmann Verlag GmbH, 1998

ISBN: 9783830950776 , 292 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 9,99 EUR

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Endstation Aasee - Ein Münsterkrimi mit Sieglinde Züricher


 

Erstes Kapitel

Jürgen Kotte hatte nicht nur seinen Arbeitsauftrag genau protokolliert, er eignete sich, wie sich herausstellte, auch als akribischer Zeuge. Seine Aussagen waren so exakt und detailliert, einschließlich seiner an der roten Ampel ausgeheckten Urlaubspläne, daß die Mordkommission später zumindest diese Minuten mühelos rekonstruieren konnte.

Zur gleichen Zeit, als der Tote gefunden wurde, saßen wir im Büro des Morddezernats. Es war mein erster Arbeitstag, und wir feierten meinen Einstand und den Abschied von Hauptkommissar Frieder Lenz. Lange und zäh hatte er sich um eine Versetzung nach Köln beworben, wo seine Frau Lehrerin war, und nun wurde es gleich eine Beförderung zum Ersten Hauptkommissar. Das war für ihn noch mehr Grund zur Freude als die Ankunft seiner Nachfolgerin. Aber sie hatten sich für mich, „die Neue“, etwas Exotisches einfallen lassen. Ich kam aus dem Münchner Sittendezernat, und so waren die Schreibtische bayrisch gedeckt: mit Weißwürsten und süßem Senf, Laugenbrezeln und Münchner Bier. Die Abteilungssekretärin Hilly hatte Papierdecken in weiß-blauem Rautenmuster besorgt, dazu Servietten und Pappgeschirr „Ton-in-Ton“. Das Ganze erinnerte an einen Kindergeburtstag, was nicht zuletzt an dem alkoholfreien Bier lag, aber schließlich war man im Dienst. Ich nahm an, daß Hilly hinter dem gesamten Budenzauber steckte, und bedankte mich bei ihr.

„Ja, schmeckt’s?“ fragte sie gönnerhaft. „Wissen Sie, es gibt da eine Metzgerei in der Innenstadt ... Und überhaupt, wenn Sie demnächst mal einen Rat brauchen, wegen Friseur oder Gynäkologen …“

„Ich komme bestimmt darauf zurück“, versprach ich, und sie zwinkerte vertraulich mit ihren dunklen Rosinenaugen. Kein Zweifel, diese Frau, allein in einem Verband knallharter Männer, brauchte weibliche Verstärkung!

Das Schönste an dieser Einstands-Fête war, daß man sich Zeit lassen konnte. „Der Pinguin“, Dezernatsleiter Dr. Gross, hatte sich abgemeldet, angeblich wegen Gallenkoliken. Aber Inspektor Max Lückmann, mit dem Lenz das Büro teilte, wußte, daß Gross’ Leib-und-Magen-Verein Borussia Dortmund am Sonntag nachmittag haushoch gegen Werder Bremen verloren hatte. Und da war es doch wohl eher ein übler „Kater“, der den Chef zu Hause festhielt. Seinen Spitznamen verdankte Dr. Gross seinem possierlichen Gang und der Tatsache, daß er immer den gleichen schwarzen Anzug trug. Nur die Fliege, mit der er seine weißen Oberhemden aufputzte, wechselte von Zeit zu Zeit. Das Telefon schellte in unsere Debatte über den Mordfall Maria Rohrbach hinein, dessen „besonders bestialische Note“, wie Lenz sagte, im Frühjahr 1957 in Münster die Gemütswellen hatte hochschlagen lassen. Sein Onkel war, auf der Seite des Gesetzgebers selbstverständlich, in die Geschichte verwickelt gewesen, als 1961 die Akte noch einmal geöffnet wurde. Mit dem Ergebnis, daß „die Rohrbach“ nach vier Jahren Zuchthaus aus Mangel an Beweisen freigesprochen wurde.

„Und die besonders bestialische Note?“ fragte ich.

Lenz, ein großer, magerer Mittvierziger, mit scharf vorspringender Nase und ausgeprägten Geheimratsecken, nahm sich noch eine Weißwurst und zuzelte sie herzhaft, während er weiterredete.

„Nachdem sie ihrem Mann Rattengift in den Malventee geschüttet hatte, sägte sie die Leiche auseinander und brachte die Einzelteile, in alte Decken gehüllt, auf ihrem Fahrrad weg. Die obere Rumpfhälfte fischte man zwei Tage später aus dem Aasee, die untere auf der Höhe der Wienburg aus der Aa. Und um das widerwärtige Puzzlespiel komplett zu machen: auch die Beine fanden sich in der Aa, in einem toten Flußarm. Den fehlenden Kopf hatte sie angeblich im Küchenherd verbrannt, aber nach zweieinhalb Jahren entdeckte man, auf halber Strecke zur Wallfahrtskapelle von Telgte, den teilweise noch behaarten Schädel in einem ausgetrockneten Bombentrichter. So sahen die Richter, Schöffen und Gutachter den Fall, gestanden hat die Rohrbach nie. Und so leben die Mörder noch heute“, schloß er, wie in einem schlechten Märchen, und erbarmte sich endlich seines Telefons. Durch die Muschel hörte man die aufgeregte Stimme des Anrufers.

„Wo seid ihr?“ fragte Lenz, „Himmelreichallee? Vor oder hinter der Landesbausparkasse? Eine männliche Leiche in einem Auto? Auf einem Parkplatz, oder? … An einer Ampel? Wollt ihr mich auf den Arm nehmen? … Ach so!“

Er schluckte das Wurstende herunter und brachte damit seinen Adamsapfel zum Tanzen. Sein Tonfall klang jetzt völlig verändert.

„Habt ihr Papiere gefunden? Ja? … Wer, sagst du? Das darf doch nicht wahr sein! Bleibt, wo ihr seid! Wir kommen!“

Er legte auf. „Wißt ihr, wer am Aasee tot in seinem Auto liegt? Der Rehberg!“ Lückmann begann krampfhaft zu schlucken und legte den Wurstzipfel zurück auf seinen Pappteller.

„Ruf die Spurensicherung an“, sagte Lenz. „Nach einem Herzinfarkt sieht das ganz und gar nicht aus! … Himmelreichallee. An der Ampel Ecke Hüfferstraße!“ Lückmann nickte. Mit einem schnellen Schluck leerte Lenz seinen Becher und zog sich die Anzugjacke an. „Kommen Sie, Sieglinde! Es geht schon los mit der Arbeit!“

Während wir im Aufzug zum Hof fuhren, fragte er völlig zusammenhanglos: „Wer in Ihrer Familie ist eigentlich auf die Idee gekommen, Sie nach einer gelben, festkochenden Kartoffelsorte zu nennen?“

Einen Augenblick war ich sprachlos. Sollte das ein Witz sein?

„Die Alternativen waren Apollonia und Creszenzia“, sagte ich katzig. „Apollonia war die Tagesheilige, als ich auf die Welt kam, und Creszenzia hieß meine Großmutter.“

Er grinste. „War nicht böse gemeint. Aber bei Namen wie dem Ihrigen stelle ich mir immer die Frage: ‚Wer war zuerst da, das Kind oder die Kartoffel?‘“

„Das Kind“, sagte ich wütend. „Jedenfalls bei uns in Bayern!“

„Also gut, Sieglinde!“ brummte er, stieg in den Dienstwagen, öffnete mir die Beifahrertür und schoß los, noch bevor ich den Sicherheitsgurt befestigen konnte. Wer in München hatte mir diese Schauermärchen von den „Saupreußen“ erzählt? Gerade eben hätte ich noch drüber gelacht!

„Es wäre nett, wenn Sie mir endlich erklären würden, wer dieser Rehberg war.“

Lenz steckte sich eine Zigarette an. In den Büros herrschte absolutes Rauchverbot.

„Alles, was Sie wollen!“ sagte er, „Schuldirektor, Politiker, Kunstsammler, Kammermusiker – sagen Sie, wenn ich aufhören soll …“

„Es reicht! War er beliebt? Sympathisch?“

„Ich glaube eher, daß er imponierte. Früher hatte Münster seine Originale, den ‚Tollen Bomberg‘, den ‚Ziegenbaron‘, den Professor Landois. Über die hat man gelacht. Rehberg war kein „Original“, er wollte Einfluß und Macht, deshalb hatte er überall seine Finger drin. Aus Spaß, aus Geltungssucht, was weiß ich? Er war einer, der ständig Wirbel machte, und er genoß den Wirbel. Ob Benefizveranstaltung für die Multiple-Sklerose-Gesellschaft oder ein neues Logo für den Stadttourismus, ob Fronleichnamsprozession über den Domplatz oder die Begrüßung irgendwelcher Popmusiker in der Halle Münsterland, ohne Rehberg lief nichts. Als die Stadt im letzten Juni eine Gruppe von Tschernobylkindern eingeflogen hatte, stand er mit einer Traube Luftballons auf dem Rollfeld. Es wirkte unmöglich, aber es wirkte! Seinen größten Erfolg in diesem Frühjahr feierte er, als er Spitzenkandidat für die Kommunalwahlen wurde. Dabei war ursprünglich die Rede von einem weiblichen Kandidaten gewesen, einer Klinikärztin. Wenn seine ‚Partei der Unzufriedenen‘ ein paar mehr zufriedene Wähler hätte, wären seine Chancen, Bürgermeister zu werden, gar nicht so übel. Und dann würde er einiges völlig gegen den Strich bürsten. Wissen Sie, welches seiner Wahlversprechen am meisten beklatscht wurde: die Schaffung von mehr Autoparkplätzen in der Innenstadt, damit die Kaufleute nicht all ihre Kunden verlieren …“

„Das wird den Grünen aber gar nicht gefallen haben.“

„Das hat auch den Roten nicht gefallen!“ sagte Lenz. „Aber es paßte zu Rehberg! Radikal und großbürgerlich, provokant und opportunistisch. Er brachte alles unter einen Hut! Ein richtiges Chamäleon! Nebenbei spielte er Bratsche in einem Männerquartett und sammelte moderne Kunst.“

„Haben Sie ihn persönlich gekannt?“

„Nein, ich kannte ihn, wie ihn jedermann gekannt hat. Als er vor vier Jahren Direktor des Clemens-August-Gymnasiums wurde, stand sein Lebenslauf in allen Zeitungen. Die Presse bejubelte ihn als ‚Musterpauker‘. Den Musterschüler kennt man ja, aber der Musterpauker war neu.“

„Aber solch ein Mensch hat doch Feinde. Ich kenne nur wenige Lehrer, die gar keine Feinde hätten. Zumindest unter den Schülern! Und einer, der als Musterpauker in die Medien kommt, erst recht!“

„Fühlt sich Ihre Tochter in ihrer neuen Schule nicht wohl?“ fragte er mitfühlend. Als typisches Kind seiner Stadt war er davon überzeugt, daß man nur nach Münster ziehen mußte, um sich wohl zu fühlen.

„Das weiß ich erst heute abend“, sagte ich kühl, „um halb sechs, wenn ich sie aus dem Hort abhole. Heute ist Kerstins erster Schultag. Es wäre mir lieb, wenn sie sich sogar sehr schnell wohlfühlte.“

„Bevor Rehberg Direktor vom Clemens-August wurde“, sagte...