Differenzierungskonzepte sichtbar gemacht - Eine qualitative Fallstudie zur inneren Differenzierung im Mathematikunterricht der Primarschulstufe

von: Gabriel Schneuwly

Waxmann Verlag GmbH, 2014

ISBN: 9783830980346 , 369 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: frei

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Preis: 35,99 EUR

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Differenzierungskonzepte sichtbar gemacht - Eine qualitative Fallstudie zur inneren Differenzierung im Mathematikunterricht der Primarschulstufe


 

1. Einleitung

1.1 Ausgangslage

 

Das Ringen der Schule um einen angemessenen Umgang mit der Heterogenität ihrer Schülerinnen und Schüler ist heute beinahe zu einem ihrer Strukturmerkmale geworden. Sie steht diesbezüglich von verschiedensten Seiten her unter Druck,
weil bessere Antworten auf das hinlänglich bekannte Phänomen gefordert werden (Bohl et al. 2012; Eckhart 2009; Reusser 2009; Scheunpflug 2008; Schneider 2008; Tillmann und Wischer 2006; Wenning 2007). Stellvertretend dafür sei Baumert zitiert, der in einem Interview die deutschen PISA-Ergebnisse1 folgendermassen kommentiert: „In der Verbesserung des Umgangs mit Differenz liegt vermutlich die eigentliche Herausforderung der Modernisierung des Systems“ (Baumert 2002; zit. nach Helmke 2009, S. 246).


Bezogen auf den Unterricht rückt somit ein didaktisches Prinzip wieder vermehrt in den Blickpunkt: Individualisierung oder innere Differenzierung. Hanke (2006) formuliert in einer Gesamtschau der aktuellen Schulentwicklungsforschung
verschiedene Herausforderungen und Perspektiven für die Grundschule. Darunter figuriert auch die Weiterentwicklung von Differenzierungsformen (ebd., S. 267). Auch Helmke schlägt in die gleiche Kerbe, wenn er postuliert, dass moderner Unterricht dadurch gekennzeichnet sei, dass „vielfältige organisatorische und didaktische Massnahmen der Differenzierung und Individualisierung der Heterogenität der Schüler-Eingangsvoraussetzungen gerecht werden sollen“ (2009, S. 246). Entsprechendes gilt für den angloamerikanischen Raum, wo Subban in ihrer umfassenden Literaturanalyse zu folgender Schlussfolgerung kommt: „A paradigm that is gaining ground in many educational circles is differentiated instruction“ (2006, S. 935).


Es gibt verschiedene Gründe für diese „Renaissance“ der Fokussierung auf innere Differenzierung:
Zunächst einmal ist der allgemeine gesellschaftliche Wandel zu nennen: Individualisierung, Diskursivität und Partizipation haben gesamtgesellschaftlich an Bedeutung gewonnen, und es kann ein Wechsel von der Anordnungs- zur Verhandlungsfamilie beobachtet werden (Reichenbach 1998). Viel stärker als früher wird das einzelne Kind von seinen Eltern als Individuum wahrgenommen. Von der Schule wird erwartet, dass sie diese Individualität aufgreift. Gepaart mit den hohen Erwartungen vieler Eltern an einen möglichst guten Bildungsabschluss jedes einzelnen Kindes (Paulus und Blossfeld 2007) kommt ein „homogenitätsversessener Unterricht“ (Grunder 2009, S. 115), der sich an einem „fiktiven Durchschnittsschüler“ (ebd.) orientiert – so charakterisiert Grunder (ebd.) die letzten 150 Jahre in deutschsprachigen Schulsystemen – an seine Grenzen. Migrationsbewegungen verstärken zudem die Effekte des sozialen Wandels hin zu einer allgemein grösseren gesellschaftlichen Heterogenität und zur Pluralisierung familialer Lebensformen, was auch in der Schule markant spürbar wird (Eckhart 2002; Schneider 2008). Heterogenität oder Diversity werden zu wichtigen Begriffen im gesamtgesellschaftlichen Kontext (Brügelmann 2002; Kiper et al. 2008; Scheunpflug 2008; Schneider 2008;
Wenning 2007). Die Gesellschaft als Ganzes wie die Schule als Subsystem suchen nach geeigneten Ansätzen im Umgang mit den Herausforderungen durch Heterogenität.Dabei wird im schulischen Kontext mehr und mehr versucht, den Heterogenitätsbegriff positiv zu besetzen: Heterogenität wird nicht mehr definiert als Andersartigkeit in der Differenz zu einer Norm, sondern als Vielfalt, welche sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten umfasst (Brügelmann 2002). Es wird von einer „Pädagogik der Vielfalt“ gesprochen (Prengel 2006), die u.a. auf das Prinzip der inneren Differenzierung verweist.


Einen zusätzlichen Schub in der Differenzierungsthematik haben international vergleichende schulleistungsstudien wie PISA ausgelöst. Sie haben u.a. nachgewiesen, dass das Schulsystem im deutschen Sprachraum im Umgang mit Differenz deutliche Defizite aufweist (Hanke 2006, S. 265; Scheunpflug 2008; Trautmann und Wischer 2007, S. 159) und entsprechend in diesem Bereich grosser Handlungsbedarf besteht. Die PISA-Ergebnisse zeigen beispielsweise, dass ein beachtlicher Teil der leistungsschwächeren Jugendlichen am Ende der obligatorischen Schulzeit nicht die minimalen Kompetenzen erreicht hat, um am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können (Artelt et al. 2001; Bildungsmonitoring Schweiz [Ed.] 2003; Klieme et al. 2001) und dass der soziale Hintergrund (Bildungsferne, kognitiver Anregungsgehalt, Ausbildungsniveau) der Eltern einen wesentlichen Prädiktor für Schulerfolg darstellt (Helmke 2009, S. 249; Moser und Berweger 2002). Dieser Befund kollidiert mit dem wichtigen pädagogischen Prinzip der Chancengleichheit bzw. -gerechtigkeit, welches seinerseits eng mit dem Postulat der inneren Differenzierung verbunden ist. So hatten Klafki und Stöcker (ebd. 1976) in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts das Postulat der inneren Differenzierung gerade mit dem Abbau von Chancenungleichheit zugunsten Bildungsbenachteiligter begründet (vgl. Kap. 2.3).