Disziplinen der Anthropologie

von: Silke Meyer (Hrsg.), Armin Owzar (Hrsg.)

Waxmann Verlag GmbH, 2011

ISBN: 9783830972785 , 264 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: frei

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Preis: 25,10 EUR

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Disziplinen der Anthropologie


 

Sprachanthropologie (S. 101-102)

Was heißt Menschsein vom Standpunkt der Sprache?

Frank Jablonka


Sprachanthropologie ist ein Versuch, auf folgende Grundfrage eine Antwort zu geben: Was heißt Menschsein vom Standpunkt der Sprache? Begreift man Menschsein naturgemäß als soziales Menschsein, etwa im Sinne Karl Marx’ sechster Feuerbachthese, wonach das Wesen des Menschen das „ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ ist, so wird deutlich, dass es in der Natur des Menschen liegt, kein von Natur aus angelegtes Wesen zu haben.

Vielmehr ist jede scheinbare Natur des Menschen bereits eine ,zweite Natur‘, ist also schon kulturell verfasst, durch und durch von Gesellschaftlichkeit durchtränkt. Der bereits von Aristoteles festgestellte Charakter des Menschen als ζ ον πολιτικ?ν (zoon politikon, ‚gesellschaftliches Wesen‘) ist nicht denkbar, ohne kommunikativ vermittelt zu sein. Es wird angenommen, dass diese kommunikative Vermittlung der conditio humana durch die ausschließlich dem Menschen eigene Lautsprache konstituiert ist. Damit durchdringt die Sprache als soziales Faktum in organischer Weise die anthropologische Verfassung des Menschen.

In der Tat ist die Untersuchung der Sprache vom anthropologischen Standpunkt ebenso wie die anthropologische Arbeit unter dem Blickwinkel der Sprache insofern gerechtfertigt, als wir den homo sapiens konstitutiv als homo loquens begreifen, womit die unaufl ösliche Verwobenheit von Sprache und Kognition (d.h. ,Informationsverarbeitung‘ im Nervensystem) festgestellt wird.

Der frühsowjetische Psychologe Lev S. Vygotskij kann nachweisen, dass Sprache und Denken zwar sowohl phylogenetisch (auf die Stammesentwicklung bezogen) als auch ontogenetisch (auf die Individualentwicklung bezogen) verschiedene Wurzeln haben, dass sich beim Menschen beide Funktionen jedoch zu einem unaufl öslichen Komplex amalgamieren.

Sämtliche Experimente mit Primaten weisen darauf hin, dass menschliche Lautsprache allen tierischen Kommunikationssystemen nicht nur weit überlegen ist, sondern dass hier ein evolutionär begründeter kategorialer Bruch besteht. Zwar können auch höhere Primaten einfache, künstlich erzeugte Zeichensysteme erlernen und zur Kommunikation einsetzen. Sie sind jedoch weder dazu in der Lage, diese Zeichensysteme selbst hervorzubringen, noch diese an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben. Außerdem sind sie unfähig, Zeit und Raum zu transzendieren, wodurch es ihnen verwehrt ist, in die Bereiche des Hypothetischen und der Irrealität vorzustoßen.

Der Aufbau potentieller, fi ktiver und imaginärer möglicher Welten, wie sie für die menschliche Kulturentwicklung typisch sind, steht ihnen daher nicht offen. Andere animalische Zeichensysteme, wie etwa die durch Karl von Frisch umfassend erkundete „Bienensprache“,5 können zwar den unmittelbaren Aufenthaltsort der Tiere überschreiten und auf außerhalb des Wahrnehmungsfeldes Liegendes verweisen; im Falle der Bienen ist jedoch die starre thematische Gebundenheit (Nahrungssuche) auffällig.